Um die Wirkung der Documenta Fifteen in Kunst, Politik und Öffentlichkeit vom 17. – 18.11. bei einer Tagung in Kassel. Nachdem die gesamte Findungskommission der Documenta 16 zurückgetreten war, sprach der Soziologe Heinz Bude von der tiefsten Krise der Documenta-Geschichte.
Die Documenta 15 habe gezeigt, wie verbreitet – vorsichtig formuliert – „Israelfeindlichkeit in der Kunst- und Kulturszene zum Teil sei. Einig waren sich letztlich alle Teilnehmenden der Kasseler Konferenz: Das Schwarz–Weiß–Denken in der Kunst muss aufhören.
Der Kasseler Soziologe Heinz Bude, der die Tagung organisiert hatte und auch moderierte stellte die grundlegendere Frage, wem die documenta eigentlich gehöre:
Die letzten Ausgaben der documenta sollten der globalen Kunstwelt gehören
Insbesondere in den letzten Ausgaben sollte die documenta der globalen Kunstwelt gehören – das hatte sich in der Auswahl der Leitungen ausgedrückt. Doch gerade das indonesische Kunstkollektiv „Ruangrupa“ machte klar: Viele Kunstschaffende des sogenannten „globalen Südens“ stehen im Nahost-Konflikt auf der Seite Palästinas und stellen sogar das Existenzrecht Israels in Frage.
Israelfeindlichkeit auch in der akademischen Welt
Nach dem 7. Oktober reicht das auch weit in die internationale akademische Welt hinein, berichtete in Kassel die Politologin Nicole Deitelhoff. Sie hatte im vergangenen Jahr eine Kommission zur Aufarbeitung des documenta-Skandals geleitet und vor wenigen Tagen gemeinsam mit Jürgen Habermas das Selbstverteidigungsrecht Israels unterstrichen. Seitdem bekommt sie Hassmails aus der ganzen Welt.:
Neue Leitung sollte Widersprüche nicht wegschieben
Der Soziologe Klaus Holz, Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, plädierte in Kassel dafür, für die nächste documenta dringend eine Leitung zu suchen, die inhaltliche Widersprüche nicht wegschiebt, sondern ganz bewusst zum Diskussionsthema macht. Auch bei den Themen Antisemitismus und postkolonialer Aktivismus:
Antisemitismus nicht akzeptieren
Wie auch immer die nächste Leitung der documenta besetzt wird und wann die Ausstellung schließlich stattfinden wird – ob wie geplant 2027 oder später: Das Schwarz-Weiß-Denken im Hinblick auf den Nahen Osten, so der Tenor der Kasseler Tagung, muss aufhören. Und: Aus Rücksichtsname auf den globalen Süden ein bisschen Antisemitismus zu akzeptieren – das geht nicht. Auch nicht im Namen der Kunstfreiheit.
Diskussion um die documenta fifteen
Krise der Weltkunstausstellung Rücktritt der documenta-Findungskommision – Kunst schon seit Jahren nicht mehr im Mittelpunkt
Es muss ein wirklicher Neuanfang her, sagt Journalist Ludger Fittkau, der seit Jahren über die documenta berichtet. Hintergrund sind die Rücktritte von zunächst zwei und dann allen Mitgliedern der Findungskommission für die Leitung der nächsten documenta. Ludger Fittkau ist der Ansicht: So etwas wie jetzt dürfe nicht passieren.
Dass man angesichts des Angriffs der Hamas, wieder Künstlerinnen und Künstler habe, die das Existenzrecht Israels nicht eindeutig bejahten, das könne nicht sein. Ergebnis sei: Es wird nicht über Kunst geredet in Kassel seit Monaten, seit Jahren nicht mehr, sondern immer über Strukturen, über Aufsichts- und Kontrollgremien. Und das sei fatal für eine Weltkunstausstellung
Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Die documenta fifteen endet: Was bleibt von der deutschen Erinnerungspolitik?
Die documenta fifteen geht zu Ende – und nicht wenige Menschen würden jetzt hinzufügen: endlich. Was geht, wenn die größte deutsche Kunstausstellung für viele ein Fiasko ist? Die eine Seite beklagt, mit der Documenta habe man Antisemitismus in Deutschland wieder öffentlich ausstellen können, während die andere Seite meint, hinter der Kritik an den Künstler:innen stünde Rassismus. Ein Scherbenhaufen also, zumindest in der öffentlichen Debatte.
Und was bleibt nun im Nachhinein von dieser documenta fifteen? Lässt sich aus diesem Scherbenhaufen etwas machen – zum Beispiel eine Auseinandersetzung über die deutsche Geschichts- und Gedenkpolitik und die Frage, welchen Platz die kolonialen Verbrechen darin neben der Shoah einnehmen können?
Als gescheitert würde die Journalistin Charlotte Wiedemann die documenta nicht bezeichnen. Wiedemann hat viel aus dem Ausland berichtet und beschäftigt sich mit unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Sie hat die documenta besucht und dort viele Anregungen gefunden, die sie in der deutschen Debatte vermisst hat: “Über die documenta würde eine Glocke der Deutschtümelei gestülpt. Das Problem war für mich nicht die documenta selbst, sondern unser Umgang damit.”
Anders sieht das der Kunstkritiker Hanno Rauterberg, er sagt, die mangelnde Kommunikationsbereitschaft habe den Austausch erschwert: “Der Kollektiv-Gedanke der documenta hat Kritik an einzelnen Künstlern erschwert.” Schnell habe es geheißen, Kritik meine nicht den Einzelnen, sondern alle und damit die gesamte documenta. Kritik sei deshalb von Ruangrupa schnell als rassistisch wahrgenommen worden.
Und auch der Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und engagiert hätte sich gewünscht, dass die verschiedenen Seiten wirklich miteinander ins Gespräch kommen: „Es wurde zwar viel debattiert, aber da war das Gefühl, dass man aneinander vorbeiredet.“
Viel Stoff also für eine Debatte über die deutsche Erinnerungspolitik!
Charlotte Wiedemanns Buch „Den Schmerz der anderen begreifen“ ist im Mai 2022 bei Ullstein erschienen.
Unterschiedliche Positionen und Erklärungsansätze zur documenta-Debatte findet ihr in der Ausgabe 09/2022 von Politik & Kultur, der Zeitschrift des Deutschen Kulturrats – alles abrufbar unter https://politikkultur.de/archiv/ausgaben/nr-9-22/
Die Bildungsstätte Anne Frank, deren Direktor Meron Mendel ist, hat eine Podiumsdiskussion zu Kunst und Antisemitismus veranstaltet, die ihr hier anschauen könnt: https://www.bs-anne-frank.de/events/kalender/zum-antisemitismusskandal-auf-der-documenta-fifteen
Bei „Was geht, was bleibt“ haben wir uns schon öfter mit den Themen Kolonialismus und Erinnerungspolitik beschäftigt, zum Beispiel in diesen beiden Folgen:
https://www.swr.de/swr2/programm/blinder-fleck-der-erinnerungskultur-unser-kolonialistischer-blick-nach-osteuropa-100.html
https://www.swr.de/swr2/programm/rueckgabe-von-raubkunst-dekolonisierung-oder-reine-symbolpolitik-100.html
Habt ihr noch mehr Themen, die wir uns dringend anschauen sollten? Schreibt uns auf kulturpodcast@swr.de
Host: Pia Masurczak
Redaktion: Pia Masurczak und Kristine Harthauer
Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Antisemitismus: Die Desaster-Documenta
Monatelange Warnungen und Debatten und dann ist es genauso gekommen: Antisemitische Abbildungen auf der Documenta. Der Schaden für die weltweit wichtigste Kunstausstellung ist enorm. Zu allem Überfluss fehlt eine Person, die klar die Verantwortung übernimmt, sagt Jan Tussing im Podcast. Außerdem erklärt Andrea Geier, Kulturwissenschaftlerin von der Uni Trier, die vertrackte Geschichte des Antisemitismus in antikolonialen Kontexten.
Habt ihr noch mehr Themen, die wir uns dringend anschauen sollten? Schreibt uns auf kulturpodcast@swr.de
Host: Philine Sauvageot
Redaktion: Max Knieriemen, Pia Masurczak und Philine Sauvageot