Ein ganzes Leben – das sagt sich so leicht, aber was bedeutet das eigentlich? Ist das ein langes Leben? Ein erfülltes Leben? Ein Leben, reich an Erfahrungen? Ein Leben von der Wiege bis zur Bahre? In dem preisgekrönten Roman von Robert Seethaler ist von allem etwas – das Buch erzählt die Geschichte eines einfachen Hilfsarbeiters in einem kleinen Dorf in den Bergen. Jetzt hat der Schweizer Regisseur Hans Steinbichler den Roman „Ein ganzes Leben“ verfilmt.
Der Junge ist ein Bankert – ein uneheliches Kind ohne Ehre
Der Junge kommt mit der Postkutsche in das abgeschiedene Dorf. Ein stilles Kind mit geradem Blick. Mürrisch nimmt der Bauer den Beutel mit dem Geld entgegen und führt den Sohn seiner verstorbenen Schwägerin ins Haus. Beim Essen darf Andreas nicht mit am Tisch sitzen. Ein Bankert, ein uneheliches Kind, ohne Ehre in der gesellschaftlichen Hierarchie des engen Tals. In dem abgelegenen Gehöft hat der Bauer das Sagen. Regelmäßig nimmt er den Stock und prügelt das fremde Kind. Eines Tages verliert er so sehr die Beherrschung, dass er dem Jungen die Knochen bricht.
Nach dem Tod der Großmutter (Marianne Sägebrecht) ist der Junge alleine
Die Großmutter Ahnl ist die einzige, die sich um Andreas kümmert. Beim Backen bringt sie ihm mit Buchstaben aus Teig Lesen und Schreiben bei. Wunderbar warmherzig und lebensklug leuchtet Marianne Sägebrecht in dieser dunklen, engen, katholischen Welt. Als die Großmutter stirbt, ist Andreas auf sich allein gestellt. Der junge Mann pachtet eine Berghütte und verdingt sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner. Im Gasthaus flirtet er mit der Kellnerin Marie. Sehr zum Missfallen des Wirtes.
Grandiose Bilder mit existenzieller Kraft
„Ein ganzes Leben“ – der lakonische Film von Hans Steinbichler erzählt von einem unscheinbaren Menschen. Robert Seethalers Sprache ist so klar und hart wie die steinige Bergwelt. Aber die grandiosen Bilder des Kameramanns Armin Franzen füllen das bescheidene Leben des Hilfsarbeiters mit existenzieller Kraft. Beim Blick über Gipfel und Himmel erlebt Andreas Egger das ganze Glück, als Marie die Kellnerin – robust gespielt von Julia Franz Richter - seine Liebe erwidert. Die beiden ziehen zusammen, sie erwarten ein Kind. Da überrollt eine Lawine die Hütte. Marie stirbt.
Winzigkeit des Menschen angesichts der Bergwelt
„Ein ganzes Leben“ handelt auch davon, wie klein der Mensch ist vor der Absolutheit der Bergwelt. Stefan Gorski in der Hauptrolle bleibt schweigsam, stoisch, von großer physischer Präsenz. Im Tal ist Andreas Egger der Außenseiter, am Berg ist er in seinem Element – ein Vorteil, als er bei den Bauarbeiten für die Seilbahn anheuern will. Im Zweiten Weltkrieg verlässt Egger die Sicherheit der Berge, er wird eingezogen und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Interessanterweise findet Hans Steinbichler für diesen Abschnitt der Geschichte keine Bilder. Da folgt er der kollektiven Sprachlosigkeit, wenn es um die Erfahrung der Gefangenschaft geht.
Überwältigend karger Film
Danach übernimmt August Zirner die Rolle des alternden Einsiedlers, der jetzt unter einem Felsvorsprung im Berg haust und in einem Brief an die verstorbene Marie sein ganzes Leben rekapituliert. Zirner fehlt die Kantigkeit und Schroffheit der Figur. Sein Andreas Egger wirkt auf einmal milde und umgänglich. Aber das ist nur eine leichte Irritation in diesem überwältigend kargen Film. Glück ist hier keine Frage von Besitz oder Anerkennung. Glück ist einfach ein Gefühl.
Trailer „Ein ganzes Leben“, ab 9.11. im Kino
Bücher von Robert Seethaler
Buchkritik Robert Seethaler - Der letzte Satz
Gustav Mahler am Ende seines Lebens, auf der Überfahrt von New York nach Europa. Robert Seethaler legt einen Künstlerroman vor, in dem er versucht, dem großen Komponisten aus dessen Erinnerungen und Gedanken heraus nahe zu kommen.
Rezension von Jörg Magenau.
Hanser Verlag Berlin
ISBN 978-3-446-26788-6
128 Seiten
19 Euro