Modest Mussorgskis Musikdrama „Boris Godunow“ ist nicht nur ein Gründungsakt der russischen Oper, sondern ist als „musikalisches Volksdrama“ von brisanter Aktualität. Das Nationaltheater Mannheim hat nun Mussorgskis epische Zweitfassung in einer Neuproduktion von Lorenzo Fioroni und der musikalischen Leitung von Roberto Rizzi Brignoli in der Ausweichspielstätte des Pfalzbaus Ludwigshafen auf die Bühne gebracht.
Der Zar als geschundener Gottesmann
Es ist nicht leicht, ein Zar zu sein. Vor allem, wenn sein Volk der Rus in einem ziemlich heruntergekommenen Betonschacht mit Kronleuchter lebt. Dieses mit nahezu identischen blonden Scheitelfrisuren ausgestattete Kollektiv ist leicht zu manipulieren und erfleht sich Boris Godunow als gottgesegneten Herrscher.
Regisseur Lorenzo Fioroni lässt ihn in seiner Inszenierung von Modest Mussorgskis gleichnamiger Oper im Pfalzbau Ludwigshafen nur mit einem Lendenschurz bekleidet auftreten, als sich geiselnden Gottesmann mit Christuswunde an der Seite.
Patrick Zielke gibt einen grandiosen Godunow
Dieser Gottesmann, mit machtvoll dunklem Glockenton und harter Strenge grandios gesungen und verkörpert von Patrick Zielke, ist ein aus der religiösen Propaganda erzeugter Zar. Er lebt seine Macht aber auch mit zwiespältiger Gewalt aus.
Sein Gegenspieler ist nicht unbedingt der entlaufene Mönch Grigorij, der sich als ermorderter und von den Toten auferstandener Zarewitsch Dimitrij ausgibt (mit der lyrischen Stimme von Jonathan Stoughton). Es ist eher dessen gespenstische Vision als schlechtes Gewissen des Mörders.
Ganz ernst ist der falsche Dimitrij mit seiner Pappkrone nicht zu nehmen und so bleibt er am Ende auch auf seinem Pferd vor der Wand stecken. Das blutig revoltierende Volk lässt ihn einfach stehen.
Das Barockschloss steht Kopf
Für die polnisch-litauische Intrige um die manipulierende Fürstentochter Marina hat sich Fioroni mit seinem Ausstatter Paul Zöller ein surrealistisches Ambiente ersonnen: Dieser Hof jenseits der russischen Grenze ist eine auf dem Kopf stehende Kulisse eines Barockschlosses.
Marina, von Julia Faylenbogen mit warmer Fülle gesungen, und ihre Hofdamen sind Fledermäuse, die polnischen Magnaten gezierte Hunde. In dieses Tierwerden der Fremde tritt als intriganter Strippenzieher der Jesuit Rangoni als rabenschwarze Figur im Federkostüm hinzu.
Entrussifiziert inszeniert mit Fokus auf Machtverhältnisse
Mussorgskis Historienpanorama ist in seiner Bilderfolge auch ein differentes Musiktheater. Da hat Fioroni genau hingehört und lässt die Schenkenszene mit den saufenden Mönchen, die Dimitrij zur Flucht verhelfen, als überspitztes Volkstheater mit riesigen, karikaturartigen Puppenköpfen ablaufen.
Der Inszenierung gelingt die Entrussifizierung von Mussorgskis Denken über die historische Form der Macht als übergeordnetes Musiktheater.
Das Volk ist der Hauptdarsteller
Vor allem ist „Boris Godunow“ aber eine Oper des Chors, hervorragend einstudiert vom neuen Chordirektor Alistair Lilley. Das Volk ist der Hauptdarsteller.
Wie Kinder lassen sie sich beeinflussen, werden unterdrückt und treten am Ende in weißen, blutbespritzten Kitteln zur Revolution an, deren Gewalt ihrer Verzweiflung entspringt, ohne an ein Ziel zu gelangen.
Das große Solistenensemble ist gleichfalls exzellent. Bis auf einen Sängerdarsteller debütieren sie alle in ihren Partien. Die russische Originalfassung verlangt viel ab, akzentfrei lässt sich das kaum mit Nichtmuttersprachlern realisieren. Für die vokalen Klangfärbungen ist es aber unumgänglich. An einigen Stellen ist an der Koordination zwischen Graben und Bühne noch zu feilen.
Erhabene Größe auch im Orchestergraben
Roberto Rizzi Brignoli arbeitet die Herbheit wie die erhabene Größe von Mussorgskis ganz eigener Instrumentierung mit dem Nationalorchester exemplarisch heraus. Auch das am natürlichen Sprechen orientierte Tempo ist den Intentionen des Komponisten entsprechend präzise gewählt.
Mit szenischer und musikalischer Verve gelingt in Mannheim eine großartige Aufführung von Mussorgskis herausragendem Meisterstück.