Sollte die Demokratie geschützt oder die AfD bekämpft werden? Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz beschäftigt sich seit Freitag mit mehreren Äußerungen der ehemaligen Ministerpräsidentin Dreyer im Zusammenhang mit einer Demonstration Anfang 2024.
Am 2. April soll die Entscheidung gegen die Landesregierung und die Ex-Ministerpräsidentin verkündet werden. Das sagte der zuständige Richter nach dem ersten Verhandlungstermin.
AfD: Sehen Urteilsverkündung zuversichtlich entgegen
"Das Gericht hat eindeutig festgestellt, dass eine Neutralitätspflichtverletzung gegeben ist. Wir diskutieren jetzt darüber, ob es eine Rechtfertigung dafür gibt und ob das unter bestimmten Umständen vorstellbar ist", sagte der AfD-Landesvorsitzende Jan Bollinger nach der Verhandlung. "Wir sind der Auffassung, dass das hier nicht verhältnismäßig war". Es liege eine Selbstermächtigung der Regierung vor, die AfD auf diese Art und Weise zu bekämpfen. Die Äußerungen seien jenseits jeglicher Sachlichkeit und einer Regierung nicht angemessen. "Wir sehen deshalb der Urteilsverkündung zuversichtlich entgegen."
Landesregierung: Müssen Demokratie verteidigen
Staatskanzleichef Fedor Ruhose (SPD) sagte in der Verhandlung, die Landesregierung
habe nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, für die Grundsätze der Verfassung einzutreten. "Unsere Grundwerte geraten gerade ins Wanken“, warnte er. Nach Auffassung des Landes dürfen beim Kampf gegen Verfassungsfeinde auch in der Öffentlichkeit die Namen der jeweiligen Parteien genannt werden. Aufrufe zu Protesten seien im Vergleich zu einem Parteienverbot zudem das mildere Mittel.
Als Beleg für die Gefährlichkeit der AfD führten die Vertreter des Landes Verfassungsschutzberichte und öffentliche Äußerungen von AfD-Politikern an, etwa über beabsichtigte "millionenfache" Rückführungen von Zuwanderern.
Auch Ministerpräsident Schweitzer vor Gericht
Neben Malu Dreyer muss sich auch der amtierende Ministerpräsident Alexander Schweitzer (beide SPD) vor dem höchsten Gericht im Land verantworten. Beiden wird vorgeworfen, in ihrem Amt gegen das Neutralitätsgebot verstoßen zu haben. Mit dem Fall von Dreyer beschäftigt sich nun der Verfassungsgerichtshof in Koblenz in einer mündlichen Verhandlung. Wann die Klage gegen Schweitzer verhandelt wird, ist noch unklar.
- Um welche Vorfälle geht es?
- Was hat es mit dem Neutralitätsgebot auf sich?
- Wie urteilten Gerichte bisher in punkto Neutralitätspflicht?
- Was dürfen Regierungsmitglieder über den politischen Gegner sagen, ohne gegen das Neutralitätsgebot zu verstoßen?
- Was sagen Juristen zum Verfahren gegen Malu Dreyer?
- Was sagen Juristen zum Ausgang des Verfahrens gegen Alexander Schweitzer?
- Was bedeutet es, wenn das Gericht Malu Dreyer oder Alexander Schweitzer wegen des Neutralitätsgebots verurteilen?
Um welche Vorfälle geht es?
Im Januar 2024 hatte es einen Medienbericht über ein Treffen von Rechtsextremen und auch AfD-Politikern gegeben, bei dem es um Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund gegangen sein soll. In der Folge gab es bundesweit Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und auch gegen die AfD.
In diesem Kontext rief auch Ministerpräsidentin Dreyer über das Internetportal der Landesregierung dazu auf, an einer Demonstration unter dem Motto "Zeichen gegen Rechts – kein Platz für Nazis" teilzunehmen. Am Tag danach veröffentlichte die Staatskanzlei eine Pressemitteilung, in der Dreyer die AfD kritisierte. Zudem veröffentlichte die Staatskanzlei eine Pressemitteilung zu einer Preisverleihung an den Schauspieler Matthias Brandt. In dieser Pressemitteilung fand der Schauspieler deutliche Worte gegen die AfD.
Vorwürfe gegen Dreyer AfD klagt gegen Landesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof
In Rheinland-Pfalz hat die AfD gegen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und die Landesregierung Klage vor dem Verfassungsgerichtshof eingereicht.
Die AfD wirft Dreyer vor, sie habe sich parteiisch verhalten und damit gegen das Neutralitätsgebot verstoßen. Dieses verpflichtet Regierungsmitglieder dazu, sich gegenüber Parteien neutral zu verhalten. Deshalb reichte die AfD im Sommer 2024 beim Verfassungsgerichtshof Klage gegen Dreyer ein.
Im Fall des Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer geht es um ein Ereignis in diesem Jahr. Ende Januar hatte die CDU/CSU im Bundestag beim Thema Migration einen Antrag eingereicht, der nur mit Zustimmung der AfD eine Mehrheit erreichen konnte. Ministerpräsident Schweitzer (SPD) hatte sich anschließend über das Internetportal und Social-Media-Kanäle der Landesregierung kritisch zur CDU geäußert.
Schweitzer sagte unter anderem: "Umso beunruhigender ist es, wenn eine demokratische Partei sich eine Mehrheit sucht mit der in Teilen rechtsextremen AfD. Sie verlässt damit die demokratische Mitte." Die CDU-Landtagsfraktion sieht darin einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot und reichte im Februar beim Verfassungsgerichtshof Klage ein.
Verstoß gegen Neutralitätsgebot? CDU-Klage gegen Schweitzer: Keine Eilentscheidung mehr
Die rheinland-pfälzische CDU-Fraktion hat eine Klage gegen Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) beim Verfassungsgerichtshof des Landes eingereicht. Es gibt neue Reaktionen beider Seiten.
Was hat es mit dem Neutralitätsgebot auf sich?
Artikel 21 des Grundgesetzes garantiert politischen Parteien Chancengleichheit. Bedeutet: Alle Parteien sollen die gleiche Chance haben, am politischen Wettbewerb teilzunehmen
Regierungsmitglieder haben durch ihr Amt eine besondere Autorität. Das, was sie sagen, hat eine besondere Glaubhaftigkeit, ein besonderes Gewicht. Wenn ein Regierungsmitglied sich gegen eine bestimmte Partei äußert, besteht die Gefahr, dass diese Partei im Wettbewerb mit anderen Parteien benachteiligt wird. Auch weil sie diese Äußerungen mit staatlichen Ressourcen (Steuergeld, Mitarbeiter, Internetseiten der Landesregierung, usw.) tätigen.
Deshalb leitet sich aus Artikel 21 das Neutralitätsgebot ab. Es zwingt Amtsträger wie zum Beispiel die Ministerpräsidentin dazu, sich politischen Parteien gegenüber neutral zu verhalten. Demnach dürfen sich Regierungsmitglieder weder zu Gunsten, noch zu Lasten von Parteien äußern.
Wie urteilten Gerichte bisher in punkto Neutralitätspflicht?
Das Bundesverfassungsgericht legt die Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern sehr streng aus. Das zeigen mehrere prominente Beispiele:
Im Februar 2020 hatte sich in Thüringen der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte das auf einer Regierungspressekonferenz während eines Staatsbesuchs. Unter anderem mit der Aussage, dass "keine Mehrheiten mit der AfD gewonnen werden sollen" ... dieser Vorgang sei "unverzeihlich". Die AfD klagte und bekam Recht. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass Merkel gegen das Neutralitätsgebot verstoßen habe.
Dem früheren Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erging es ähnlich. Er hatte 2018 in einem Interview der Deutschen Presseagentur über die AfD unter anderem gesagt "die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten…Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen."
Seehofer hatte das Interview auf die Homepage des Ministeriums gestellt. Nach einer Klage der AfD urteilte das Bundesverfassungsgericht, Seehofer habe gegen das Gebot staatlicher Neutralität verstoßen und die Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt.
Ein ähnlich lautendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts kassierte auch die frühere Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU). Sie hatte 2015 auf der Internetseite des Ministeriums eine Pressemitteilung unter dem Motto "Rote Karte für die AfD" veröffentlicht.
Was dürfen Regierungsmitglieder über den politischen Gegner sagen, ohne gegen das Neutralitätsgebot zu verstoßen?
Im Grunde fast alles, solange sie die Kritik nicht in ihrer amtlichen Funktion als Ministerpräsident oder als Minister äußern. Was das für die Praxis bedeutet, zeigt der Fall der früheren Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD). Sie hatte 2014 vor der Landtagswahl in Thüringen in einem Zeitungsinterview gesagt, "Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt". Die NPD hatte ihr daraufhin vorgeworfen, gegen das Neutralitätsgebot verstoßen zu haben.
Das Bundesverfassungsgericht sah das anders. Die Ministerin habe in dem Interview "keine staatliche Autorität in Anspruch genommen und als Mitglied ihrer Partei, nicht der Regierung, gesprochen", heißt es im Urteil. Und, sie habe das ohne "Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten" getan.
Aus den Urteilen geht insgesamt hervor, dass es unproblematisch ist, wenn sich ein Regierungsmitglied als Privatperson oder als Mitglied seiner Partei zum Beispiel am Wahlkampfstand oder bei einer Parteitagsrede äußert. Es wird dann zum Problem, wenn sich der Politiker in seinem Amt äußert und Ressourcen seines Amtes nutzt.
Was sagen Juristen zum Verfahren gegen Malu Dreyer?
Der Verfassungsrechtler Professor Joachim Wieland von der Universität Speyer sagte dem SWR: "Das Bundesverfassungsgericht hat sich beim Neutralitätsgebot sehr eindeutig festgelegt. Ich gehe davon aus, dass das Landesverfassungsgericht in Rheinland-Pfalz dieser Linie folgen wird und zu dem Urteil kommt, dass auch Malu Dreyer gegen das Neutralitätsgebot verstoßen hat."
Der Parlamentsrechtler Professor Philipp Austermann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung sieht das anders. Er geht davon aus, dass Ministerpräsidentin Malu Dreyer nicht gegen das Neutralitätsgebot verstoßen hat.
Austermann sagte dem SWR, Dreyer habe sich in der Pressemitteilung zur Demonstration auf "führende Köpfe der AfD" bezogen, was man als Warnung deuten könne. Sie habe zwar in ihrer Funktion als Ministerpräsidentin gehandelt und auch die Ressourcen ihres Amtes genutzt. Aber: Dreyer habe wie alle Verfassungsorgane den Auftrag, die Verfassung zu schützen und dafür aktiv einzutreten.
Das Bundesverfassungsgericht habe dazu festgestellt, dass Regierungsmitglieder vor Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung warnen dürfen, so Austermann. Genau das habe Dreyer im vorliegenden Fall getan. "Sie hat generell vor dem Rechtsextremismus, insbesondere möglichen Vertreibungsplänen, gewarnt. Insbesondere da einige Verfassungsschutzämter Teile der AfD als gesichert rechtsextrem einstufen, ist das zulässig. Überdies gab es keine zeitliche Nähe zu Wahlen", so Austermann.
Was sagen Juristen zum Ausgang des Verfahrens gegen Alexander Schweizer?
Mehrere Staatsrechtler, die der SWR gefragt hat, sagen, es spreche vieles dafür, dass der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) gegen das Neutralitätsgebot verstoßen hat. Einer davon ist Professor Joachim Wieland von der Universität Speyer.
Interessant: In Niedersachsen gibt es aktuell einen vergleichbaren Fall. Dort wurde der stellvertretenden Ministerpräsidentin und Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) - genau wie Schweitzer - ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot vorgeworfen. In Niedersachsen hat die Ministerin den Verstoß selbst zugegeben.
Die Ministerin hatte – ähnlich wie Schweitzer – die CDU nach ihrer gemeinsamen Abstimmung mit der AfD im Bundestag kritisiert. In einer Pressemitteilung des Ministeriums sagte die Ministerin: "Dieser Tag ist eine Zäsur für Deutschland und ein Tabubruch. Friedrich Merz hat damit die Büchse der Pandora geöffnet und sein Wort gebrochen, indem er mit der in Teilen rechtsextremen AfD gemeinsame Sache macht."
Die CDU-Opposition in Niedersachsen warf der Ministerin anschließend vor, gegen das Neutralitätsgebot verstoßen zu haben und stellte dazu eine kleine Anfrage an die Landesregierung.
In der Antwort der SPD-geführten Staatskanzlei hat die Landesregierung den Fehler zugegeben: "Nach eingehender Betrachtung der Rechtslage hätte hierfür ein anderes Vorgehen gewählt werden müssen." Laut NDR hatte die Ministerin einen Brief an die CDU geschickt und sich entschuldigt. Damit hat sie verhindert, dass die CDU-Opposition sie deshalb verklagen kann.
Was bedeutet es, wenn das Gericht Malu Dreyer oder Alexander Schweizer wegen des Neutralitätsgebots verurteilen?
Sie kämen nicht ins Gefängnis und müssten auch keine Geldstrafe zahlen. Das Gericht würde lediglich feststellen, dass sie gegen das Neutralitätsgebot und damit gegen die Verfassung verstoßen haben. Der Parlamentsrechtler Austermann spricht von einer "gerichtlichen Ohrfeige".
Das klingt harmlos. Aber: Von einer Ministerpräsidentin oder einem Ministerpräsidenten darf man erwarten, dass er/sie sich an die Regeln der Verfassung halten. Insofern ist die Feststellung, dass sie gegen die Verfassung verstoßen haben, mindestens unangenehm bis peinlich und kann im Wahlkampf natürlich vom politischen Gegner aufgegriffen werden.
Bei Malu Dreyer stellt sich die Frage nicht mehr, weil sie im Ruhestand ist. Alexander Schweitzer hat aber in einem Jahr, am 22. März 2026, eine Landtagswahl vor der Brust.