In diesem Buch werden die Massenmordprogramme des NS-Deutschlands wohl zum ersten Mal parallel wissenschaftlich dargestellt. Sieben von ihnen zählt Alex Kay, der sich am Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Uni Potsdam habilitiert: den europaweiten Mord an Behinderten, die versuchte Ausrottung der polnischen Elite ab 1939 sowie der Einwohner von Warschau 1944, die Ermordung von etwa zwei Millionen sowjetischen Zivilisten, der Massenmord an über drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die europaweite Tötung von Zivilisten unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung, den Völkermord an etwa 200.000 Angehörigen von Rom-Völkern und schließlich den Holocaust, die gezielte Ermordung von ca. sechs Millionen europäischen Juden. Die Gesamtzahl der Opfer dieser sieben intentionalen Mordprogramme beziffert Kay auf etwa 13 Millionen.
Kays Buch kommt zur rechten Zeit. In dem Maße, wie die Kolonialverbrechen der europäischen Staaten endlich ihre Aufarbeitung erfahren, wird der spezifische Charakter des Holocausts infrage gestellt. Indem Kay die großen NS-Mordprogramme parallel verhandelt und auch auf Kolonialismus und Rassismus eingeht, kann er das Verbindende wie das Trennende extrapolieren.
Grundlegend ist die Differenzierung von Massentötung und Völkermord: Jeder Völkermord ist auch eine Massentötung, aber nicht jede Massentötung ein Völkermord. Die Ermordung von etwa 2,6 Millionen unbewaffneten Zivilisten in der Sowjetunion war eine Massentötung, aber nicht zwingend ein Völkermord, weil eine Absicht, alle ihre slawischen Einwohner restlos zu ermorden, nicht klar nachweisbar ist.
Dagegen ging es bei der Shoa um die Vernichtung aller Jüdinnen und Juden, und das sogar weltweit. Ein vergleichbarer offizieller Plan, etwa alle Schwarzen dieser Erde aufzuspüren und zu töten, ist dagegen nicht überliefert.
Ebenso wichtig ist Kays ideologiegeschichtliche Erklärung für den Judenmord:
„Ungeachtet der Kontinuitäten zwischen deutschen Kolonialgräueln und den Schrecken der NS-Zeit ist jede Einstufung des Holocaust [...] als »kolonialer Genozid« sehr problematisch. Kolonialer Rassismus ist eine Ideologie der Überlegenheit; Antisemitismus ist eine Ideologie der Unterlegenheit. Die Deutschen fühlten sich den Juden unterlegen.“
Für die Opfer der konkreten Gewalt spielt dies freilich keine Rolle. Das betont auch Kay, dessen Arbeit durch ihre gewaltgeschichtliche Sachlichkeit besticht und sich souverän auf dem aktuellen Stand der Forschung bewegt.
Zwischen den Mordprogrammen der Nazis und denen anderer totalitärer Systeme sieht Kay deutliche Unterschiede:
„Kein anderes Regime in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verfügte mit vergleichbarer Härte und im gleichen Umfang [...] den Tod von Menschen wie Adolf Hitler und die Nationalsozialisten. Der Hungertod von zig Millionen zwischen 1958 und 1962 als Folge von Mao Zedongs [...] Große[m] Sprung nach vorn[,] war nicht geplant. [...] Und obwohl diesbezüglich einige übertriebene Schätzungen kursieren, belief sich die Zahl der Opfer gezielter Massenmorde während der beinahe 30-jährigen stalinistischen Herrschaft in der Sowjetunion auf etwas in der Größenordnung von einer Million Menschen.“
Freilich eine gewagte Einschätzung; denn für die These, dass auch Stalins Hungerpolitik einen gezielten Genozid an Ukrainern und Kasachen darstelle, gibt es gute Gründe.
Die Besonderheit der Shoa gegenüber anderen Völkermorden begründet Kay geschichtshermeneutisch: sie sei ein Angriff auf die Werte von Individualismus und Humanismus gewesen, der exemplarisch gegen die Juden geführt wurde:
„Die Nationalsozialisten lehnten die Juden nicht zuletzt deshalb ab, weil sie die Modernisierungskräfte der Aufklärung mit deren Idealen von Entwicklung und Fortschritt ablehnten. Dies allein sollte uns erkennen lassen, dass der Holocaust sich fundamental vom, sagen wir, Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika unterschied.“
Mit „Das Reich der Vernichtung“ liegt nun die fundierte und intellektuell eigenständige Synopsis der Massentötungen des NS-Staates vor, auf die man bislang gewartet hat. Ein brillantes Beispiel britischer Historiographie, lesenswert für Laien und Fachleute gleichermaßen.
Aus dem Englischen von Thomas Bertram
wbg Theiss Verlag, 456 Seiten, 38 Euro
ISBN 978-3-8062-4504-2