Viele Kosmetika und andere Alltagsprodukte enthalten hormonwirksame Substanzen. Sie machen Plastikverpackungen und Plastikspielzeug weich, ebenso die Innenbeschichtung von Konservendosen oder Coffee-to-go-Bechern. Sie sorgen dafür, dass der Thermodruck von Parkscheinen funktioniert. Und sie stecken in den meisten Kosmetikartikeln, zum Beispiel um sie länger haltbar zu machen. Sogar bestimmte Medizinprodukte enthalten Substanzen, die wie Hormone wirken.
Der Hormonforscher Prof. Josef Köhrle warnt vor den Folgen der hormonaktiven Substanzen. Seine Stimme hat Gewicht. Er forscht an der Berliner Charité und ist darüber hinaus Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Endokrinologie – das ist die Wissenschaft von den Hormonen.
Um welche Stoffe geht es und warum sind sie nicht längst verboten? Zwei einfache Fragen, die sich nicht einfach beantworten lassen. Unklarheit herrscht bereits darüber, wie viele hormonwirksame Chemikalien es überhaupt gibt. Fast 300, sagt die EU. Für viel zu wenig hält das die Weltgesundheitsorganisation WHO.
Alarmierend: Durchschnittliche Intelligenz und Fruchtbarkeit nehmen ab
Forscherinnen und Forscher beobachten, dass Krankheiten und andere Phänomene häufiger werden, die sie auf Störungen des Hormonsystems zurückführen. So nimmt die durchschnittliche Intelligenz etwa seit der Jahrtausendwende ab. In Großbritannien und Dänemark wurde das durch Studien nachgewiesen. Vorher hatte der IQ kontinuierlich zugenommen.
Außerdem beobachtet die Wissenschaft, dass die Fruchtbarkeit abnimmt: Immer mehr Paare sind ungewollt kinderlos. Die WHO sieht hier ebenfalls den Einfluss der Hormonchemikalien, denn sie wirken auch auf die Geschlechtshormone. Deswegen machen Ärzte diese Stoffe mit dafür verantwortlich, dass die Pubertät bei Kindern immer früher einsetzt. Und dass Brust- und Hodenkrebs zunehmen.
Hormonaktiv oder nicht? Kennzeichnungen gibt es nicht
Tatsächlich müsste man fast Chemiker sein, um die Inhaltsangaben auf den Produkten einordnen zu können. In einigen Fällen könnte die App "ToxFox" des BUND helfen. Am einfachsten wäre aber eine Kennzeichnung von hormonwirksamen Substanzen, etwa durch ein Gefahrensymbol. Doch das gibt es nicht. Wie auch? Die Substanzen sind – bis auf wenige Ausnahmen – gar nicht verboten.
Denn, so das Hauptargument der Industrie: Nicht immer seien diese Chemikalien leicht zu ersetzen. Und überhaupt – wissenschaftlich sei eben nicht restlos bewiesen, dass ausgerechnet sie für Fettleibigkeit, Unfruchtbarkeit, Diabetes, sinkende IQ und so weiter verantwortlich sind. Unsere Umwelt habe sich ja auch sonst verändert, und ebenso das Ernährungsverhalten.
Ein Argument, das man nicht von der Hand weisen kann, das erkennen auch Hormon-Experten wie Josef Köhrle an. Es gibt aber doch Versuche, die mehr zeigen als nur eine Assoziation – also einen statistischen Zusammenhang, der auch andere Gründe haben könnte. Keine Experimente mit Menschen, aber immerhin mit menschlichen Zellen. Mit Spermien.
Spermien finden schwerer zur Eizelle
Spermien werden im Körper der Frau durch die Eizelle angelockt, die zu diesem Zweck Hormone aussendet. Christoph Brenker vom Zentrum für Reproduktionsmedizin der Universität Münster wollte wissen, ob Spermien im Labor durch die hormonwirksamen Chemikalien genauso ein Locksignal erhalten. Zum Beispiel durch Stoffe, die in vielen Sonnencremes, in der Zahnpasta oder im Deo stecken. Bei 30 von 100 der am weitesten verbreiteten Substanzen konnte gezeigt werden, dass diese Substanzen Signale in den Spermien auslösen und sie die Eizelle nicht mehr so leicht finden konnten.
Besonders alarmierend war ein weiteres Experiment des Münsteraner Forschers: Wenn die Samenzellen auf zwei hormonwirksame Stoffe gleichzeitig treffen, dann verdoppelt sich der Effekt nicht nur. Die Kombination führt Spermien gleich zehn Mal so häufig in die Irre. Systematisch sind Kombinationen aus Hormonchemikalien bisher nicht untersucht worden. Das sollte aber passieren, findet Christoph Brenker.
Etwa zehn Substanzen sollten sofort verboten werden, findet der Hormon-Experte Josef Köhrle, darunter einige Inhaltsstoffe von Sonnenschutzmitteln wie zum Beispiel Benzophenone.
Europäische Union reagiert auf politischen Druck
Die Europäische Union hat auf den politischen Druck reagiert. Zunächst zögerlich, in einem Strategiepapier vom November 2018. Da sprach sich die Kommission zum Beispiel dafür aus, durch mehr Forschung klare Kriterien dafür zu definieren, wann eine Substanz überhaupt als „hormonell wirksam“ bezeichnet werden soll. Auch sollte es darum gehen, die unterschiedlichen Vorschriften zu vereinheitlichen, die hormonelle Stoffe erwähnen. Zum Beispiel die Richtlinien für Pestizide und für Spielzeug.
Nachdem daraufhin nichts weiter passiert war, forderte das Europäische Parlament die Kommission kurz vor der Europawahl 2019 mit Nachdruck zum Handeln auf. Es bat zwei renommierte französische Wissenschaftler um ein Gutachten über die Hormonchemikalien. Das Ergebnis las sich wie eine Ohrfeige für die damalige EU-Kommission.
"Chemikalienstrategie" der EU von 2020 bisher nur auf dem Papier
Im Herbst 2020 haben sich diese Initiativen ausgezahlt. Die neue Kommission veröffentlichte eine "Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit". Und darin sind die hormonaktiven Substanzen ausdrücklich erwähnt.
Doch noch ist die EU-Chemikalienstrategie, die im Rahmen des "Green Deal" verabschiedet wurde, nicht mehr als Papier. Sie muss erst in konkrete Vorschriften gefasst werden. Darauf bereiten sich Lobbygruppen wie der deutsche Verband der Chemischen Industrie bereits vor. Der Verband argumentiert beispielsweise: Es komme gar nicht darauf an, ob ein Stoff schädlich ist. Denn von einigen Substanzen nehme man gar nicht so viel auf, dass ein Schaden von ihnen ausgehen könne. Umweltverbände sagen dagegen: Giftige Chemikalien haben in der Umwelt selbst in geringer Menge nichts zu suchen. Sie begrüßen daher die Strategie. Nur wird ihre Umsetzung noch längere Zeit dauern.
Auch Bioprodukte nicht völlig frei von hormonwirksamen Stoffen
Nicht einmal im Bioladen ist es möglich, hormonwirksame Stoffe völlig zu vermeiden. Sie sind einfach allgegenwärtig. Verbraucherinnen und Verbraucher haben es nur begrenzt in der Hand, wie stark Chemikalien aus der Umgebung auf dieses sensible System Einfluss nehmen. Das muss sich endlich ändern, denn wir alle tragen die Folgen.
SWR 2020/2021