Musikmarkt: Buch-Tipp

Matthias Corvin: Märchenerzähler und Visionär. Der Komponist Engelbert Humperdinck

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Er gilt ein bisschen als der Märchenonkel unter den Komponisten. Grund dafür ist die Popularität seiner Oper „Hänsel und Gretel“. Zugegeben, man kann Engelbert Humperdinck durchaus eine Affinität zum Genre Märchen unterstellen, aber es gibt bei ihm weit mehr zu entdecken. Diesen Eindruck erweckt zumindest ein neues Buch, das anlässlich von Humperdincks 100. Todesjahr erschienen ist. Christoph Vratz stellt den neuen Band vor.

Am 8. Januar 1881 erreicht der damals 26-jährige Engelbert Humperdinck Bayreuth. Er ist der Neue am Grünen Hügel. Er soll als Assistent von Richard Wagner die geplante Uraufführung der Oper „Parsifal“ betreuen:

„Im Wirtshaus […] in der Kanzleistraße bezieht Humperdinck eine geräumige Wohnung im zweiten Stock. In zwei Zimmern wohnt er, der restliche Bereich wird zum Arbeitsraum umfunktioniert, der so genannten „Parsifal-Kanzlei“. […] Außerdem gibt er zwei Töchtern der Wagner-Familie Klavierunterricht.“

Humperdinck taucht tief ein in die Welt Wagners, er wird sogar mit der Abschrift der „Parsifal“-Partitur betraut (deren Fassung später als Vorlage für den Druck dienen wird). Insgesamt sind seine Erfahrungen der Jahre 1881 und 1882 auffallend gut dokumentiert. Humperdincks Begeisterung für Wagner reicht aber über diese Zeit hinaus. Denn er bearbeitet Ausschnitte aus dem „Parsifal“ gleich mehrfach: für Orchester, für Kammermusik-Ensemble und für Klavier vierhändig.

Initialzündung: Albert Lortzings Oper „Undine“

Humperdinck ist Rheinländer. 1854 wird er in Siegburg nahe Bonn geboren. Er lernt Klavier und hört mit 14 Jahren in Köln erstmals Albert Lortzings Oper „Undine“ – ein prägendes Erlebnis, eine Art Initialzündung. An Studien in Köln und München schließt sich ein Stipendium in Italien an. Dort begegnet er erstmals Richard Wagner.

Nach dem Bayreuth-Intermezzo dauert es wenige Jahre, bis Humperdinck die Keimzelle für seinen späteren Welterfolg legt:

„Aufbruch und Neubeginn gelingen Engelbert Humperdinck schließlich über ein kleines Liederspiel. Bereits zur Weihnachtszeit 1888 hat er für seine dichtende Schwester Adelheid das Kindermärchenspiel „Schneewittchen“ vertont. Nun komponiert er am 18. und 19. April 1890 in Mainz vier Lieder für das von ihr geschriebene Liederspiel „Hänsel und Gretel“.“

Daraus erwächst zunächst ein Singspiel, schließlich die Märchenoper, die Humperdincks Ruhm begründen wird – aber auch eine verknappte Wahrnehmung seines gesamten Schaffens.

Der Kölner Autor und Musikwissenschaftler Matthias Corvin hat Leben und Werk des Engelbert Humperdinck auf knapp 300 Seiten genauer unter die Lupe genommen. Schon im ersten Kapitel warnt er eindringlich davor, den Komponisten allzu sehr auf das Genre „Märchen“ zu reduzieren. Zwar war Humperdinck in seiner Musiksprache nicht durchgängig so fortschrittlich wie ein Richard Strauss oder Gustav Mahler. Allerdings:

„Bei Humperdinck findet durchaus Innovation statt, doch stets auf einer leiseren Ebene. […] Humperdincks raffinierte, bisweilen behagliche Volksnähe als Qualität anzusehen, das fällt nach dem Zweiten Weltkrieg schwer.“

Humperdinck war gut vernetzt im internationalen Musikleben

Humperdinck sieht sich als Brückenbauer zwischen Alt und Neu, als ein Mann, der die Widersprüche seiner Zeit erkennt und mit eigenen Mitteln zusammenzuführen versucht. Ob seine Zusammenarbeit mit dem großen Theater-Regisseur Max Reinhardt und vielen berühmten Dirigenten seiner Zeit, ob seine Musikkritiken oder seine verfilmte Pantomime „Das Mirakel“, die zu einem Motor der späteren Filmmusik wurde – Humperdinck war auf vielfältige Weise gut vernetzt im internationalen Musikleben.

Fundierte und gut lesbare Studie

Matthias Corvins Humperdinck-Buch erweist sich als sehr fundierte, gründlich recherchierte und zugleich gut lesbare Studie über einen Komponisten, der aus heutiger Sicht aus der Mode gefallen scheint. Corvin legt Humperdincks vielfältige Bedeutung für das damalige Musikleben auf anschauliche Weise offen und zeichnet das Bild eines Menschen, dessen Toleranz und Verständigkeit sich nicht mit den vielen Polemiken seiner Zeit vertragen.

„Märchenerzähler und Visionär. Der Komponist Engelbert Humperdinck“ – Matthias Corvins Buch ist beim Schott Verlag erschienen und kostet 22,99 Euro.

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SWR