Die Musikgeschichte ist reich an vergessenen Komponisten und solchen, die es auch zu Lebzeiten nie ins Bewusstsein der Mitmenschen schafften. Einer von ihnen war Martin Scherber (1907-1974). Nun ist seine ambitionierte 3. Sinfonie aus den 1950er-Jahren eingespielt worden. Ob diese Bekanntschaft sich lohnt?
Nur ein mittelmäßiger Bruckner-Abklatsch?
Die naheliegendste Assoziation erweist sich hier als ein Irrweg: Anton Bruckner. Aber klar, wer würde bei einem solchen Anfang einer Sinfonie nicht sofort an das schrullige Genie von Sankt Florian denken?
Martin Scherber aus Nürnberg, geboren 1907, gestorben 1973. Niemand kennt ihn heute, kaum jemand kannte ihn zu Lebzeiten. Der große Dirigent Bruno Walter, dem Scherber seine Partitur geschickt hatte, urteilte 1957 gnadenlos: Diese Musik habe keinerlei Schöpferkraft.
Walter sah in Scherber wohl nur den lächerlichen Bruckner-Epigonen. Und tatsächlich ist ja das ganze Klangbild eindeutig an Bruckner orientiert. Vom Ostinato-Teppich, mit dem alles anfängt, bis zur kindlichen Freude am erhabenen Bläsersatz.
Eher Bolero als Bruckner
Nur – die Struktur ist komplett anders als bei Bruckner. Der Ostinato-Rhythmus etwa bleibt und bleibt und bleibt, richtig penetrant. Eher Bolero als Bruckner. Kein Wunder, dass Bruno Walter darüber den Kopf schüttelte.
Als Bruckner-Kopie wirkt diese Musik dilettantisch. Keine Umbrüche, keine Durchbrüche und keine Höhepunkte, schon gar keine „absoluten“. Statt Bruckners Steigerungskunst aufreizende Monotonie, trotz aller Crescendi und dem prächtigen Klanggewand.
Martin Scherbers Musik hält dem Vergleich mit Bruckner nicht stand. Nur – vielleicht ist das ja einfach der völlig falsche Maßstab?
Hypnose durch Redundanz
Das Album „Zodiac“ des katalanischen Orquestra Simfònica Camera Musicae mit dem Dirigenten Christoph Schlüren tut nun etwas Überraschendes und sehr Kluges: Es kombiniert Martin Scherbers 3. Sinfonie mit Arvo Pärt.
Schon bei der Welterstaufführung 2019 in Barcelona stellte Schlürens Orchester der Scherber-Sinfonie Arvo Pärts „Festina lente“ voran. Das ist ein wertvoller Hörhinweis.
Scherber nannte seine seltsame Art zu komponieren „Metamorphosenmusik“, dabei ist nicht an kunstfertige Variationen zu denken, sondern an Umfärbungen des Immergleichen. Und es bewirkt nicht wie Bruckner Sog durch Entwicklung, sondern eine Art Hypnose durch Redundanz. Sogar an den Minimalismus der amerikanischen Westküste könnte man strukturell denken, an Steve Reich oder Morton Feldman – so gegensätzlich es klingt.
Beim mehrfachen Hören macht es Klick
Die Sinfonie dauert über eine Stunde und ist durchkomponiert. Die verschiedenen Abschnitte im Klangfluss hat Scherber mit Tierkreiszeichen betitelt – Stier, Jungfrau, Skorpion usw. Heraushören lassen sich diese Bezüge für mich nicht. Und auch, dass Scherber offenbar eine starke Neigung zur Anthroposophie von Rudolf Steiner hatte, kann man meines Erachtens als Hörer ignorieren.
Mich setzen hier komplett andere Assoziationen in die Spur. Beim ersten Durchhören war ich ratlos, bald auch gelangweilt. Beim zweiten Hören machte es plötzlich Klick, ich hatte mein eigenes Aha-Erlebnis: Ich dachte an Techno. Damit meine ich natürlich kein stumpfes Hyper-Hyper-Stampfen, sondern musikalische Trance wie vor dreißig Jahren im „Tresor“ oder heute im Berghain oder Kitkatclub. Und auf einmal fand ich es großartig!
Man muss sich in den richtigen Modus begeben
Ist das also nun gute Musik? Keine Ahnung. Das hängt ja immer von den Kriterien ab, die man anlegt, und auch vom eigenen Erleben. Aber auf jeden Fall ist das sonderbar genug, dass ich mich freue, davon erfahren zu haben.
Auf dem Album ist die Sinfonie gleich zweimal zu hören, einmal als Live-Aufnahme aus Barcelona 2019, einmal als Studio-Aufnahme. Es gibt eine ausführliche Einleitung im Booklet, reich an Kenntnissen und Begeisterung, allerdings durch schlechtes Layout schwer lesbar und auch inhaltlich erschöpfend mit seitenlangen Aufzählungen von allerlei Referenzen, die wenig fruchtbar sind.
Aber wie gesagt – man muss sich in den richtigen Modus begeben und dann diese Musik in all ihrer Dauer durchleben.