Die Stuttgarter Philharmoniker sind dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Emil Kahn hat das Orchester früh als Dirigent geprägt. Jetzt hat Rainer Bunz pünktlich zum Jubiläum eine beeindruckende Biografie vorgelegt.
Die Stuttgarter Philharmoniker sind ein Orchester mit Geschichte. Seit 1924 gibt es sie schon. Am Dirigentenpult stand in der Gründungszeit auch ein Mann, der in den 1920er-Jahren im deutschen Südwesten Musikgeschichte geschrieben hat.
Emil Kahn hat dem damaligen Philharmonischen Orchester Stuttgart früh Strahlkraft verliehen. Unter anderem sind auch zahlreiche Aufnahmen für den Rundfunk entstanden. Dass Emil Kahn heute nahezu unbekannt ist, liegt an den Nationalsozialisten, die ihn 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft zur Flucht in die USA zwangen.
Höchste Zeit also, dass jemand diesen spannenden Dirigenten aus der Vergessenheit zurückholt.
Einer der ersten Rundfunk-Dirigenten
Mit großer Sachkenntnis und vielen Details führt Rainer Bunz durch das Leben Emil Kahns: Wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankfurt Komposition studiert und, wie auch sein Kommilitone Paul Hindemith, im Ersten Weltkrieg an die Front muss.
In den 1920er-Jahren findet Kahn dann die Anstellung in Stuttgart. Mit dem Orchester führt er Konzerte auf, die live im Rundfunk übertragen werden. Ein Novum.
Nebenher dirigiert er auch mal die Staatskapelle Berlin oder nimmt ganze Opern und Liederzyklen für die Schallplatte auf. Es sind goldene Jahre. Die aber gehen in den 1930er-Jahren zu Ende. Emil Kahn ist Jude und muss um seine Zukunft fürchten. 1933 wird Hitler Reichskanzler. Juden dürfen fortan nicht mehr arbeiten, schon gar nicht in der Kulturszene.
Im Februar 1933 dirigiert er ein letztes Mal Wagner in Stuttgart. Der Saal ist mit SS-Leuten gefüllt. Eine Provokation.
Jüdische Komponisten in der Diaspora Operette unterm Hakenkreuz: Wie die Nazis ein Genre zersetzten
Anfang des 20. Jahrhunderts boomt die Operette, dann kamen die Nazis. Jüdische Komponisten wie Paul Abraham und Emmerich Kálmán gelten nun als „entartet“.
Flucht vor den Nazis Richtung USA
Zwar hält sich Kahn über den Sommer noch mit einigen Gelegenheitsjobs über Wasser. Im Herbst aber scheint ihm die Ausreise unausweichlich.
In New York, der Stadt der Freiheit, angekommen, nimmt sich Kahn ein Zimmer im Hotel Astoria – ein Ort der Emgranten und der Subkultur. Hier hofft er auf die eine oder andere zufällige Begegnung hofft. Und in der Tat: Er findet Anschluss.
Ein deutscher Stardirigent in der US-Provinz
Eine einflussreiche Gönnerin verschafft ihm 1936 eine dauerhafte Anstellung an einem Collegeorchester in New Jersey. Von da an dirigiert Emil Kahn Lehramtsstudenten. In einem Jahrbuch der amerikanischen Hochschule heißt es:
Ein deutscher Stardirigent in einer Provinzstadt, irgendwo an der amerikanischen Ostküste. Ein Schritt in eine andere Welt. Kahn und seine Familie überleben den Krieg, entgehen dem Massenmord an den europäischen Juden.
Es gelingt Ihnen nach und nach, sich ein Standbein in Amerika aufzubauen. Deutschland hingegen werden Kahn und seine Frau erst zwanzig Jahre später auf Reisen wiedersehen.
Unterhaltsame Lektüre trotz wissenschaftlicher Genauigkeit
Rainer Bunz erschließt mit seinem Buch einen Dirigenten, der im Nachkriegsdeutschland viel zu lange unbekannt geblieben ist. Es wird flankiert von vielen Bildern aus dem Familienarchiv und ist, trotz aller wissenschaftlichen Genauigkeit, eine Lektüre, die immer wieder auch Spaß macht.
Das liegt vor allem an den vielen kleinen Musikgeschichten, die Bunz erzählt, etwa auch von Kahns Rolle als Musikvermittler und Brückenbauer zwischen seiner alten und neuen Heimat. So organisierte er in den 1950er-Jahren für die Studierenden an seinem College eine musikalische Europareise inklusive Besuch an deutschen Opernhäusern:
Seine Studenten waren begeistert, Emil Kahn selbst aber wollte sich nie wieder in Deutschland niederlassen. Sein letztes Konzert gibt er im Alter von 85 in der New Yorker Carnegie Hall. Auf dem Programm steht Musik von Brahms, Mozart, Weber und Wagner. Zwei Jahre später stirbt der ehemalige Rundfunkpionier und Stardirigent in New York City.
Im Jubiläumsjahr der Stuttgarter Philharmoniker ist die Lebensgeschichte des Dirigenten Emil Kahn eine interessante Entdeckung.
Mehr zu den Stuttgarter Philharmonikern
Musikthema Ein Orchester für alle: Die Stuttgarter Philharmoniker werden 100
Ein paar Freunde gründen ein Orchester – und es bleibt für 100 Jahre bestehen. In Stuttgart ist das möglich. Die Stuttgarter Philharmoniker begehen in dieser Spielzeit ihr 100. Jubiläum und feiern mit einem bunten Programm. Ein Grund, sich die Geschichte und die Zukunftsvisionen des Orchesters näher anzuschauen.
Mittagskonzert Jubiläumskonzert der Stuttgarter Philharmoniker
Wie klingt Stuttgart? Zu ihrem 100. Geburtstag hatten sich die Stuttgarter Philharmoniker von Libor Šima eine Vertonung ihrer Stadt gewünscht. Šima verwandelt seine Stadt mit der achsätzigen Komposition in eine Art klassische Big Band und ist selbst Teil davon: als Saxofonist im Obi Jenne-Quartett.
Obi Jenne Quartett:
Libor Šima (Komposition & Saxofon)
Olaf Polziehn (Klavier)
Obi Jenne (Schlagzeug)
Jakob Krupp (Kontrabass)
Stuttgarter Philharmoniker
Leitung: Frank Dupree
Leonard Bernstein:
Three Dance Episodes aus dem Musical „On The Town“
Libor Šima:
„Urban Places“ (Uraufführung)
(Konzert vom 30. April 2024 im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle)
Musikgespräch Der Dirigent Dan Ettinger – Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker
Der israelische Dirigent Dan Ettinger wurde ausgebildet in Klavier, Kontrabass und Gesang und wandte sich dann dem Dirigieren zu. Er ist regelmäßig zu Gast an den großen Opernhäusern der Welt und auf den internationalen Konzertpodien. Seit der Spielzeit 2015/2016 ist er Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker, dirigiert außerdem regelmäßig das Tokyo Philharmonic- und das Israel Symphony Orchestra und er ist Music Director der Israeli Opera in Tel Aviv.