Neue Chefdirigentin des WDR-Sinfonieorchesters wird Marie Jacquot. Sie ist die erste Frau auf diesem Posten bei einem Rundfunkorchester – und das wurde auch Zeit, findet Hannah Schmidt.
Marie Jacquot: Spontan, unverkrampft, fantasievoll
Wer mit der 1990 geborenen Marie Jacquot spricht, wer sie dirigieren sieht, wird diesen Eindruck wohl so schnell nicht vergessen. Da scheint keine eindeutige Schule durch, keine Handschrift irgendeines Lehrers, vor allem aber auch kein Eifer, irgendwem irgendetwas zu beweisen – sondern stoische Gelassenheit, wie ein tiefes Vertrauen in die Musik.
Mit ihrer Art hat Marie Jacquot das WDR Sinfonieorchester überzeugt. Mitglieder und Vorstand haben sie jetzt zur neuen Chefin gewählt. „Wir haben uns musikalisch wie menschlich von der ersten Sekunde an bestens verstanden“, sagt Jacquot selbst laut Pressemitteilung.
Der Orchestervorstand schwärmt, sie habe es „vom ersten Augenblick an“ verstanden, „das Orchester mitzureißen“.
Marie Jacquot dirigiert das WDR Sinfonieorchester: „La mer“ von Debussy
Vom Tennisplatz ans Dirigientinnenpult
Diese Entscheidung ist besonders. Und besonders gut. Ihre Karriere begonnen hat Marie Jacquot ursprünglich im Sport – als Tennisspielerin, und sogar ziemlich erfolgreich. Dann ist sie zur Posaune gewechselt und hat das Instrument bis kurz vor der Abschlussprüfung studiert.
Sie kennt also gewissermaßen beide Seiten und die damit verbundenen Herausforderungen: die Seite der impulsiven Solistin auf dem Platz, und die Seite der sich einfügenden Mittelstimme im tiefen Blech.
In ihrer Arbeit mit dem Orchester und der Musik verbindet sie beides miteinander. Sie stellt das gemeinsame Musizieren und die Komposition ins Zentrum – es geht ihr nicht in erster Linie um Innovation oder „Unerhörtsein“. Das hat was Konservatives – aber ist auf Jacquots kreative Art extrem erfrischend.
Marie Jacquot dirigiert das WDR Sinfonieorchester: „Tristan und Isolde“ von Wagner
Die Mühlen drehen sich langsam bei den Öffentlich-Rechtlichen
Diese Entscheidung ist nun eine Vorwärtsschauende, unter vielen anderen in der Klassikwelt und auch in der Welt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die tagtäglich lieber „etabliert und sicher“ wählen und sich am liebsten für bewährte Männer am Chefpult entschieden. Die Mühlen der Besetzungspolitik drehen sich nur langsam .
Natürlich ist Marie Jacquot nicht die einzige beeindruckende Dirigentin da draußen, und trotzdem hat es bisher vor ihr noch keine andere Frau beim WDR auf diesen Posten geschafft – das gilt übrigens nicht nur für diesen Klangkörper, sondern auch für die meisten anderen in Deutschland.
Marie Jacquot dirigiert das HR Sinfonieorchester: „Der Zauberlehrling“ von Dukas
Eine hoffentlich wegweisende Entscheidung
Nur eine Handvoll Chefdirigentinnen gibt es momentan, und das bei rund 130 öffentlich geförderten Orchestern. So sieht es eben aus, wenn wichtige Positionen Jahrzehntelang primär nach Geschlecht und großen Namen besetzt werden, und weniger nach Können oder inspirierendem Potenzial.
Für Marie Jacquot in Köln hoffe und wünsche ich auf jeden Fall nur das Beste – und gratuliere dem Orchester dazu, dass es sie für sich gewinnen konnte. Diese Entscheidung ermutigt vielleicht auch andere Klangkörper dazu, bei der nächsten Nachbesetzung die Augen und Ohren etwas weiter aufzumachen.
Dirigentinnen im Portrait
SWR2 Zur Person Die Dirigentin Giedrė Šlekytė – auf der Suche nach dem Engelskreis
Sängerin, Tänzerin oder doch lieber Journalistin? Die Litauerin Giedrė Šlekytė hatte so einige Berufswünsche, bevor sie als 14-Jährige mit dem Dirigieren anfing. Schnell war klar: Das ist ihr Traumberuf! Und den meistert sie mit Bravour. Neben Gastdirigaten bei hochkarätigen Orchestern bleibt zwischen Tomatenstauden und Salatköpfen sogar noch Zeit beim Urban Gardening auf der eigenen Terrasse in Klagenfurt.
Zur Person Die Dirigentin Oksana Lyniv – Temperament, Präzision und Tiefgang
Ende Juli 2021 war es die Sensation bei den Bayreuther Festspielen: Am Dirigentenpult zur Premiere von Wagners "Fliegendem Holländer" stand zum ersten Mal eine Frau, Oksana Lyniv. Danach großer Jubel, auch bei der Fachpresse.
Beindruckt hatte sie vor allem mit ihrer Präzision, ihrem dirigentischem Temperament und ihrer enormen musikalischen Tiefe. Seit Januar 2022 ist Oksana Lyniv jetzt Chefdirigentin des italienischen Opernorchesters in Bologna. Zuvor leitete sie das Opernhaus in Graz. Über den Musikbetrieb, ihre steile Karriere und ihren persönlichen Blick als Dirigentin auf das Leben erzählt sie in SWR2.
Von Dorothea Hußlein