Donaueschinger Musiktage 2014 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2014: "Körper und Seele"

Stand
AUTOR/IN
Ondřej Adámek, aus dem Englischen: Nele Haller

Musik als Klangtheater

Meine Musik ist ein Klangtheater, in dem die Klangobjekte zu Personen werden und unterschiedliche Dialoge, Beziehungen, Kommunikationen und Dramen untereinander kreieren und aufbauen.

Ich habe oft das Gefühl, dass die Stücke, die ich schreibe, bereits im Kosmos existiert haben und ich nur als eine Art Medium diene, als ein Instrument, das sie empfängt, sie zu Papier bringt und somit für die Musiker notiert und für das Publikum hörbar macht.

Bereits mein ganzes Leben lang forsche und entdecke ich eine Auswahl von unabhängigen Klängen, Gesten, Emotionen und sammle sie. Ich frage mich dabei immer, was die genauen Kriterien für meine Auswahl sind. Ist es die Authentizität?

Für mich ist es eine besondere Herausforderung, mit vielem gleichzeitig verbunden zu sein – mit dem Körper, seinem Atem und dem Puls, mit der Welt um mich herum, mit der Natur, den Menschen, den Musikern, dem Publikum und mit der präsenten Energie.

Wenn ich komponiere, handele ich ganz und gar instinktiv. Ich nehme mir für jedes Projekt viel Zeit und schreibe hunderte Entwürfe. Ich redigiere das, was ich bereits geschrieben habe, immer und immer wieder, auch wenn dies nur minimale Veränderungen zur Folge hat. Während dieses Prozesses werden meine Ideen gefiltert und aufgearbeitete Ideen von früheren Stücken ausgesiedelt. Manche Ideen bleiben, andere verschwinden, manche davon werden die ausdrucksvollsten, manche die am meisten entwickelten, und so weiter. Während dieses forschenden/vorbereitenden Vorgangs entwickle ich eine neue Notation und lerne, wie ich etwas schreibe, was ich so zuvor noch nie geschrieben habe. Ich mag es immer weniger, Pläne und Konzepte anzuwenden. Manchmal habe ich eine genaue Vorstellung in meinem Kopf, aber ich bin nicht immer in der Lage, sie niederzuschreiben. Zuerst muss ich dafür eine Technik entwickeln…

Während ich komponiere, singe ich viel, dirigiere das imaginäre Orchester um mich herum oder artikuliere mit meinem Atem und Mund die Gestik und Rhythmik.

Ich profitiere von den heutigen Möglichkeiten, dass man sehr preisgünstige Musikinstrumente kaufen kann, die genau denselben Bau haben wie die wirklich teuren Exemplare der Profimusiker. Dies erlaubt mir, die verschiedenen Spieltechniken selbst auszuprobieren. Während ich komponiere, spiele ich auf diversen Instrumenten, um mich in den Interpreten hineinzuversetzen und um spezielle Spieltechniken zu entdecken (auf Streichinstrumenten, Flöten, Gitarren, Perkussionsinstrumenten, Klavieren).

Dadurch, dass ich meine Musik immer wieder dirigiere, fühle ich mich in den Probenprozess stark mit einbezogen. Dies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung und ich bekomme einen Eindruck, wie ich meine Partituren verbessern kann und wie sich die Rolle des Dirigenten fortwährend verändert.

In meiner Kindheit habe ich oft der Musik von Bach und Mozart gelauscht und es sehr bedauert, nicht in ihrer Zeit geboren zu sein oder in einer Zeit, die es mir erlaubt, in derselben musikalischen Sprache zu komponieren, wie sie es taten.

Während meines Studiums wurden mir viele Tabus und Verbote in der Musik beigebracht. Nachdem ich mein Studium beendet hatte, hat es mich Jahre gekostet, mich von all diesen Zwängen zu befreien. Ich erlaube es mir, in der Ästhetik oder Sprache zu komponieren, die mir gefällt.

Ich will, dass meine Musik kommuniziert.

Ich benötige immer öfter einen Text oder einen Kontext, eine Geschichte hinter der Musik, eine zusätzliche musikalische Bedeutung.

Körper und Seele

Vier verschiedene Texte unterschiedlicher Zeitepochen und unterschiedlicher geographischer Zonen werden verknüpft. Alle diese Texte reflektieren in unterschiedlicher Art und Weise das Verhältnis zwischen der Seele und dem Körper.

1. Sjón: finnagaldur/wizzadry/schamanenzauberei (Isländisches Original, deutsche Übersetzung, tschechische Übersetzung)

2. Duše a tělo/Body and Soul/Körper und Seele (Volkstümlicher tschechischer Text, 19. Jahrhundert)

3. Viraja Homa (Auszug aus dem rituellen vedischen Mantra, Sanskrit)

4. Sjón: uppstigning á fjöllum/ascension in the mountains/himmelfahrt in den bergen (Englische Übersetzung)

Die Entstehung dieses Werkes verlief parallel zur Entwicklung der Air-Machine. Vor fünf Jahren begann ich mit Luft zu experimentieren und konstruierte eine Maschine, die Staubsauger mit verschiedenen aufblasbaren Objekten, Obertonflöten und anderen selbst-gebauten, nicht temperierten Blas- und Spielzeuginstrumenten verbindet.

Zur gleichen Zeit las ich Gedichte von Sjón, der damals mein Nachbar im Stipendiatenhaus des DAAD in Berlin war. Besonders begeisterte mich das Gedicht schamanenzauberei und überraschenderweise stellte ich fest, dass es sich wunderbar zu dem Klang der von mir über dem Zimmer des Dichters gebauten und bespielten Air-Machine fügte.

Zu jener Zeit erteilte mir Armin Köhler den Auftrag, für die Donaueschinger Musiktage ein Werk für Chor, Orchester und die Air-Machine zu komponieren. Dafür wählte ich zwei Gedichte von Sjón aus: schamanenzauberei, in dem es um die Schwere des Körpers geht, und himmelfahrt in den bergen, das die Thematik der körperlichen Leichtigkeit aufgreift.

Aber nicht nur die Texte allein waren eine Quelle der Inspiration, sondern auch wie der Dichter über sie sprach. Sjón redet gerne über seine Werke, und jedes Mal, wenn er dies tat, überraschte er mich mit neuen Interpretationen seiner Texte.

Später kamen noch die beiden anderen Texte hinzu, welche sich ebenfalls mit der Beziehung von Körper und Seele beschäftigen: ein volkstümlicher tschechischer Text sowie ein vedisches Mantra.

Das Stück beginnt mit der laponischen Schamanenzauberei (Sjón, finnagaldur). Sjón beschreibt in seinem Text ein angestammtes Ritual und eine spirituelle, laponische Schamanenzauberei, welcher die niederen Geräusche des menschlichen Körpers, die gleichzeitig während des Rituals erklingen, gegenübergestellt werden.

Im letzten Sommer beendete ich Polednice/Die Mittagshexe für Chor und Orchester, ein Werk, das auf einer in Tschechien bekannten Ballade des Romantikers Karel Jaromir Erben basiert. In der gleichen Balladensammlung entdeckte ich auch Duše a tělo/Body and Soul/Körper und Seele, ein volkstümlicher tschechischer Text. Die Einfachheit und Direktheit sowie der Rhythmus des Textes haben mir sofort gefallen. Der Text ist ein Zwiegespräch der leidenden Seele mit dem toten, sündigen Körper ("Körper, Körper, was hast du getan, du warst so stolz, du warst gekleidet in Gold, du gingst tanzen, vergaßt dabei Gott, ich leide, leide wegen dir!!!!"… "Seele, Seele, gib nicht mir die Schuld, du hast mich die ganze Zeit begleitet!!!"… "Ich war die ganze Zeit mit dir, Körper, aber ich konnte nicht einmal mich selbst kontrollieren"…). Ich beschloss, den Konflikt zwischen Lust und Schuld bis ins Groteske zu treiben.

Ein Jahr später verbrachte ich einen Monat in einem von Nithyananda geleiteten indischen Ashram. Jeden Morgen vollzogen die Mönche das Viraja Homa (ein Feuerritual der Entsagung) und das dazugehörige Mantra. Ich lernte von ihnen einige Teile dieses Mantras. Die Hindus glauben, dass allein die Phonetik des Sanskrits einen positiven, heilenden Effekt ausübt. Mich faszinierte die Schönheit dieser altertümlichen Sprache und ihre klangliche Ähnlichkeit mit dem Tschechischen. Erst am Ende meines Aufenthalts verstand ich die Bedeutung dieses Mantras:

"Mit diesem Opfer sollen alle Formen meines Atems, meine Sinne und jeder Teil meines Körpers gereinigt werden…"

Sofort wollte ich es in die Komposition Körper und Seele einbauen, allerdings war es schwierig, dieses Mantra in Musik umzusetzen. Schließlich beließ ich es nahezu in seinem originalen Zustand.

Das letzte Gedicht uppstigning á fjöllum/ascension in the mountains/himmelfahrt in den bergen) von Sjón geht von der Vorstellung aus, wie jemand in die Berge hinaufgestiegen ist; es zeigen sich Fußabdrücke, allerdings nur in eine Richtung; die Fußspuren verlieren sich plötzlich…

Aus verschiedenen Gründen entschied ich mich dafür, das Publikum in die Mitte der Orchestergruppen zu setzen: Es soll die Assoziation einer Schamanenzauberei mit Atem- und Energiewellen entstehen, die schnell den gesamten Raum durchqueren. Das Publikum soll dadurch in das Innere der "Körper-Geräusche" eintauchen. Dadurch wird das Zwiegespräch zwischen Seele und Körper und ihrer physischen Distanz, also durch das "Streiten" der Musikergruppen, akzentuiert, indem letztere an den unterschiedlichen Ecken des Konzertsaals positioniert werden.

Hinter meinen letzten drei Werken verbergen sich ausdrucksstarke Geschichten. Das musikalische Material besteht dabei aus sehr einfachen, liedähnlichen, melodisch-rhythmischen Motiven, die von den jeweiligen Textvorlagen ausgehen.

Im Vergleich zu Kameny, dem vorangegangenen Werk für das SWR Vokalensemble und das Ensemble intercontemporain, ebenfalls mit einem Text von Sjón, spiele ich in diesem Werk viel mehr mit der Rhythmik und den speziellen Vokaltechniken und weniger mit den harmonischen Strukturen.

Die Air-Machine ist ein Instrument, das aus zwei Staubsaugern (einer saugt die Luft ein, der andere bläst sie heraus, beide stehen hinter der Bühne) und aus einem System von Ventilen, welche die Luftausgänge automatisch öffnen und schließen (Wasserventile, die mit Servomotoren verknüpft sind), besteht. Mit einem Gartenschlauch verbinde ich alle möglichen Windinstrumente, Spielzeuginstrumente und auch Luftrüssel, Ballons oder andere aufblasbare Dinge mit einem der Luftausgänge (beispielsweise eine Obertonflöte, Ballons verschiedenster Farbe, Form und Größe, Signalpfeifen, Flageolett-Röhren, Spielzeugdoppelrohrinstrumente, Hupen). Das gesamte Objekt, das von einem Pianisten mittels eines MIDI Keyboards bedient wird, wird zu einem surrealen Optik- und Geräusch-Theater. Die Air-Machine, mit der ich viel experimentiert habe, ist vielfach die Quelle der Musik und des Klangmaterials.

Die Texte

1. Sjón: finnagaldur

spilverk
af holdi og blóði
spiladósir
úr beinum og brjóski

og fara skref fyrir skref og
skref fyrir skref
og fara skref fyrir skref og
skref fyrir skref

gegnum þrívíðan keðjusönginn

meðan iðrin á inntali
sneiða hjá ytra eyranu

hinn innri maður
hlustar á sjálfan sig
heyrir eyru sín hlusta

á nið brisins
á grát miltans
á þyt lungnanna
á söng nýrnanna
á slátt háræðanna
á hvísl lifrarinnar
á brak tauganetsins
á muldur smágirnisins

og svo framvegis
svo framvegis
framvegis

*

að maður tali ekki um blöðrupúkann
sem blæs upp hvert líffærið af öðru
og sleppir svo yfir torgið með frussi

Sjón: finnagaldur / Schamanenzauberei (Deutsche Übersetzung von Tina Flecken)

feinmechanik
aus fleisch und blut
spieldosen
aus knochen und knorpeln

und gehen schritt für schritt und
schritt für schritt
und gehen schritt für schritt und
schritt für schritt

durch einen dreidimensionalen kanon

während die eingeweide beim innengespräch
das äußeren ohr meiden

der innere mensch
lauscht sich selbst
hört seine ohren lauschen

dem gluckern der bauchspeicheldrüse
dem heulen der milz
dem rauschen der lungen
dem singen der nieren
dem schlagen der kapillargefäße
dem flüstern der leber
dem knarren des nervensystems
dem murmeln des dünndarms

und so weiter
so weiter
weiter

*

sprechen wir nicht vom blasenteufelchen
das ein organ nach dem anderen aufbläht
und dann prustend über den platz fliegen lässt

Verwendete Fragmente der tschechischen Übersetzung:
hra nástrojů
z masa z krve
hrací strojky
z kostí z kloubů

krok za krokem

Sjón: finnagaldur / wizardry (Englische Übersetzung von David McDuff))

musical instruments
of flesh and blood
music boxes
of bone and bristle

and going step by step and
step by step
and going step by step and
step by step

through the three dimensional part-song

while the bowels in inner monologue
skirt past the outer ear

the inner man
listens to himself
hears his ears listening

to the murmur of the pancreas
to the weeping of the spleen
to the rustling of the lungs
to the song of the kidneys
to the beat of the capillaries
to the whisper of the liver
to the creaking of the nerves
to the mumbling of the small intestine

and so forth
so forth
forth

*

to say nothing of the bladder imp
that inflates one organ after another
and lets the off farting over the square

2. Duše a tělo (Body and Soul/Körper und Seele, volkstümlicher tschechischer Text, 19. Jahrhundert)

Na krchově před kostelem
hádala se duše s tělem:
“Tělo, tělo, cos dělalo,
žes o duši nic nedbalo?

Cos vidělo, všeckos chtělo,
na Boha jsi nezpomnělo.

Tělo, tělo, tělo hříšné,
bývalo jsi v světě pyšné.

Chodilo jsi v stříbře, zlatě:
a já, duše, trpím za tě!

Chodilo jsi po muzikách,
a já vězím v těžkých mukách.”

“Nedávej mi, duše, viny,
bylas se mnou každou chvíli.”

“Byla-li jsem vždycky s tebou,
nevládla jsem sama sebou.”

Duše a tělo (Body and Soul/Körper und Seele, englische Übersetzung von Ondřej Adámek)

On the cemetery in front of the church
the soul argued with the body:
“Body, body, what did you do,
that you didn’t care of the soul at all?

All what you saw, you wonted,
you didn’t remind the God.

Body, body, sinful body,
you used to be proud in the world.

You dressed in silver, in gold:
and I, the soul, I suffer for you!

You went to music, went to dance,
and I remain in heavy suffering.

“Hey, soul, don’t accuse me,
you were with me every moment.”

“If I was always with you,
I couldn’t manage even myself.”

3. Viraja Homa (rituelles vedisches Mantra)

In der vedischen hinduistischen Ordnung führt eine Person, die sich der Welt entsagt, um ein Sanyasi zu werden, das Viraja Homa oder das "universelle Opfer" durch. Dies ist das finale Feueropfer und die Mantras dieses Opfers sind von tiefer Bedeutung. Die Mantras wurden im Maha-Narayana Upanishad des Krishna Yajurveda gefunden.

om pranapana-vyanodana-samana me suddhyantam jyotiraham viraja vipapma bhuyasam – svaha

Mit diesem Opfer soll mein Einatmen, Ausatmen, mein tiefer Atem, mein Aufatmen und mein innerer Atem gereinigt werden. Ich bete, dass ich erstrahlen und aller blockierenden Sinne sowie ihrer Ursache, der Leidenschaften in mir, beraubt werde. Für dieses Ende möge diese Opfergabe im gesegneten Feuer angemessen dargeboten werden. Svaha!

om vanmanas-chaksuh srotra-jihvaghran areto buddhyakutih sankalpa me
suddhyantam jyotiraham viraja vipapma bhuyasam – svaha

Mit diesem Opfer sollen meine Sprache, Seele, Augenlicht, Geschmack, Geruch, Samen, Verstand, Intention und mein Ziel gereinigt werden. Ich bete, dass ich erstrahlen und aller blockierenden Sinne sowie ihrer Ursache, der Leidenschaften in mir, beraubt werde. Für dieses Ende möge diese Opfergabe im gesegneten Feuer angemessen dargeboten werden. Svaha!

om tvak-carma-mamsa-rudhira-medo majjasnayavo'sthîni me suddhyantam jyotiraham viraja vipapma bhuyasm – svaha

Mit diesem Opfer sollen meine sieben leiblichen Bestandteile – die innere und äußere Haut, das Fleisch, das Blut, das Fett, das Knochenmark, die Sehnen und die Knochen – gereinigt werden. Ich bete, dass ich erstrahlen und aller blockierenden Sinne sowie ihrer Ursache, der Leidenschaften in mir, beraubt werde. Für dieses Ende möge diese Opfergabe im gesegneten Feuer angemessen dargeboten werden. Svaha!

om sirah pani pada parsvapasthorudhara-jangha-sisnopastha-payavo me suddhyantam jyotiraham viraja vipapma bhuyasam – svaha

Mit diesem Opfer sollen meine Glieder und meine Körperteile wie mein Kopf, meine Hände, meine Füße, meine Flanken, mein Rücken, meine Oberschenkel, mein Bauch, meine Unterschenkel, Geschlechtsorgane, mein Rumpf und mein Anus gereinigt werden. Ich bete, dass ich erstrahlen und aller blockierenden Sinne sowie ihrer Ursache, der Leidenschaften in mir, beraubt werde. Für dieses Ende möge diese Opfergabe im gesegneten Feuer angemessen dargeboten werden. Svaha!

4. Sjón: uppstigning á fjöllum (ascension in the mountains/himmelfahrt in den bergen)

Sjón: ascension in the mountains (Übersetzung: David McDuff)

car at side of road
footsteps out into moor
one way

footsteps stop

arctic grouse on tussock
sprig of heather
in beak

Sjón: himmelfahrt in den bergen

ein fahrzeug am straßenrand
fußspuren hinaus in die heide
einen anderen weg

die fußspuren verlieren sich

ein schneehuhn auf einem grashügel
heidekraut
im schnabel

Stand
AUTOR/IN
Ondřej Adámek, aus dem Englischen: Nele Haller