Buchkritik

Zeruya Shalev – Nicht ich

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Eine Frau lässt Mann und Familie hinter sich, um ihre Leidenschaft auszuleben, und gerät dabei aus der Bahn – so lässt sich in Kurzform beschreiben, was in Zeruya Shalevs Roman „Nicht ich“ geschieht. Es ist ihr Debütroman von 1993, der jetzt erstmals ins Deutsche übertragen wurde. Wie Shalev diese Geschichte erzählt, ist nur ansatzweise zu fassen: als assoziative, traumhafte, aufgewühlte Gefühls-Tour de Force.

Wenn Träume oder traumartige Fantasien erzählt werden, hat das für die Zuhörenden oft etwas Irritierendes: Man wird hineingezogen in einen irrationalen Privatkosmos, mit schlingernden Wendungen konfrontiert, erzählerischen Sprüngen, die kaum nachzuvollziehen sind. Womit wir bei Zeruya Shalevs neuem Roman wären, der in Wahrheit ein alter ist: „Nicht ich“ war ihr Debüt und erschien in Israel bereits 1993 – bevor die Autorin im Jahr 2000 mit „Liebesleben“ weltweit, aber besonders hierzulande sehr bekannt wurde.

In einem für ihre deutschen Leserinnen und Leser geschriebenen Vorwort erzählt Shalev, wie es zu diesem Prosa-Debüt kam: 1991 saß sie an einem warmen Dezembermorgen in einem Café, verabredet mit einem Schriftsteller, dessen neues Buch sie seinerzeit als Verlagsmitarbeiterin betreute. Der aber verspätete sich…

„…und so drehte ich, während ich auf meinen Autor wartete, die erste Seite seines Manuskripts um und beschrieb die leere Rückseite. Ich nahm an, es würde ein Gedicht, denn ich schrieb damals hauptsächlich Lyrik, doch zu meiner Überraschung zogen sich die Zeilen immer mehr in die Länge. Der Autor erschien mit einer Stunde Verspätung zu unserer Lektoratsbesprechung, und da hatte ich bereits zehn beschriebene Seiten. Nicht nur beschriebene, sondern brennende Seiten. Als ich sie am Ende des Tages wieder las, erschrak ich. Das war so anders als die Gedichte, die ich damals schrieb (…).“

Was sie damals mit Erstaunen las, und was wir jetzt mit 30 Jahren Verspätung in der flüssigen Übersetzung von Anne Birkenhauer lesen können, sind Traum- oder besser Alptraumsequenzen, die sich aus bestimmten Konstellationen und Konflikten und Ängsten zusammensetzen. Es wirkt wirklich so, als sei das in einem einzigen langen Rausch geschrieben, ohne kompositorische Linie, ohne klare Konturen, ohne eine kenntlich gemachte Erzählerin.

Eine Erzählerin zwischen Vertrauensverlust und Sehnsucht

Wir begleiten eine Frau, die offensichtlich ihren Mann verlässt, einen Liebhaber hat und einem Ex-Liebhaber nachtrauert oder nachsinnt; eine Frau, die von ihrem Kind getrennt wird, die ihre zurückgelassene oder entführte Tochter vermisst und verzweifelt sucht und sich zugleich immer weiter von ihr entfernt; eine Frau, die an der Beziehung zu ihren Eltern leidet, vor allem an der zur Mutter. Die redet die Tochter immer mit anderem, aber nie mit ihrem richtigen Namen an, als hätte die Erzählerin keine Identität und sei keiner innigen Nähe wert.

Vertrauensverluste und Trennungsängste, Misstrauen und Sehnsucht, Liebesschmerz und Begehren, Freiheitsdrang und Rollenzuschreibungen, Intimität und Distanz – das sind die zwischen den Zeilen aufscheinenden Zustände und Lebensthemen, um die die Erzählerin kreist, und sie dreht sich dabei so schnell und unaufhörlich, dass es einem beim Lesen schwindelig wird.

Es ist nicht recht zu sagen, ob dieser Frau der Verstand entgleitet oder ob diese sprachlich verschrobene Weltwahrnehmung lediglich eine überspitzt-detaillierte Übersetzung ihres Seelenlebens ist – und einer israelischen Realität, die von der Vergangenheit und der Terrorbedrohung der Gegenwart, von Traumata und sehr begründeten Ängsten geprägt ist.

Der Körper des Geliebten (…) ist mit Kies gefüllt, und wenn er geht, hört man den Kies knirschen. Das Mädchen ist mit Honig und Milch gefüllt und von süßer Asche überzogen, und mein Körper besteht aus klebrigem Pappmaché und zerplatzten Luftballons. Sie müssen mir zustimmen, dass all diese verschiedenen Materialien eine Mischung ergeben, die absolut unzumutbar ist.

Realismus und Groteske: Erzählerin flieht aus ihrer Ehe

Halbwegs realistische Beschreibungen lösen sich unvermittelt in groteske Situationen auf; Assoziationen treiben die Erzählung voran. Die Bilder, die Shalev für den Zustand der Verwirrung und Verlorenheit ihrer aus der Ehe geflohenen Protagonistin findet, sind mitunter rätselhaft – da ist die Rede von sommerlichem Schnee, ein scheinheiliger Heiler nimmt Operationen vor, der Protagonistin gehen nach und nach die Haare aus. Manche Passagen aber lassen an nüchterner Klarheit kaum zu wünschen übrig:

Nachdem wir uns höflichst verabschiedet hatten, wusste ich, ab jetzt würde ich niemanden mehr anrufen, nicht mehr lachen, nicht mehr flüstern. Ich wusste, ich war schon hart und spitzig; ich würde nie mehr liebbar sein.

Originell, traumhaft und unausgegoren: ein aufgeregtes Debüt

Das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert, sagte der französische Psychiater und Analytiker Jacques Lacan. Was freilich heißt, dass das Unbewusste Regeln gehorcht, sich entziffern lässt. Traumerzählungen ermöglichen eine immense Freiheit, stilistisch und inhaltlich. Die Logik ist außer Kraft gesetzt bzw. es existiert eine eigene, höchst idiosynkratische Logik – und das schafft auch eine Privatmythologie.

Bei Shalev lassen sich durchaus wiederkehrende Motive finden. Traumata. Bestimmte Themen. Und dennoch hat ihr Verfahren auch etwas Unbefriedigendes, weil eben vieles sehr willkürlich wirkt, unausgegoren, traumhaft unvollendet. Ihre sprachlichen Einfälle sind originell, aber manchmal auch schwülstig und nicht selten fühlt man sich ausgeschlossen.

So bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl: „Nicht ich“ kann man als notwendigen, entfesselnden Schritt hin zu Shalevs späteren Romanen lesen, mit allen Unsicherheiten, die einem solchen ersten Schritt innewohnen. Als ein formales Experiment, das in seiner Konsequenz womöglich gescheitert, langfristig aber den Übergang von der Lyrik zur Prosa möglich gemacht hat. Shalev kommentiert es 30 Jahre später so:

[Die Erzählerin] war nicht ich, aber sie schrie (…) aus mir heraus, in einem wilden und gnadenlosen Monolog, einer Art Seelenstrip oder Stand-up-Tragödie, mal klagend, mal anklagend, mal Liebe erflehend, mal ihre Geliebten verhöhnend – voller Ungereimtheiten.

Kurz: Ein aufschlussreiches, gewagtes, angestrengtes, ja, nervig aufgeregtes Debüt, das am ehesten jene Leserinnen und Leser interessieren dürfte, die Shalevs weiteres Werk bereits kennen und schätzen.

Gespräch Angekommen! Jüdische Autor*innen schreiben in Deutschland

„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ – das wird dieses Jahr gefeiert. Denn ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321 belegt, dass damals bereits Jüdinnen und Juden in Köln lebten. Trotz der schweren Pogrome zu Beginn des Ersten Kreuzzugs (1096), während der Pest (1349) und auch trotz des noch immer unfassbaren Holocaust im 20. Jahrhundert leben bis heute Jüdinnen und Juden in Deutschland. In den letzten Jahrzehnten nimmt ihre Zahl sogar stark zu: durch den Zuzug osteuropäischer Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und auch weil Berlin bei Israelis besonders beliebt ist. Viele Autorinnen und Autoren sind darunter, und sie bereichern das literarische Leben in Deutschland. Der Kritiker Carsten Hueck kennt die Details.
Carsten Hueck freut sich auf den Roman „Schicksal“ von Zeruya Shalev, der Ende Mai im Berlin-Verlag erscheint, und empfiehlt:
Chaim Grade: „Von Frauen und Rabbinern“
Aus dem Jiddischen von Susanne Klingenstein, Die Andere Bibliothek, 44 Euro.
Tomer Gardi: „Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück“
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Droschl, 20 Euro.

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Redaktion und Moderation: Katharina Borchardt
Mit neuen Büchern von Zeruya Shalev, Dulce Maria Cardoso, Maarten 't Hart

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