Buchkritik

Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer
Redakteur/in
Anja Höfer

Übernatürliches fasziniert. Von einer solchen Faszination erzählt der Journalist Sam Knight in seinem Buch „Das Büro für Vorahnungen“ – dieses Büro wurde Mitte der 1960er Jahr in England von einem Psychiater mitbegründet, der auf der Suche nach Erklärungen fürs Unerklärliche war.

Im walisischen Bergarbeiterstädtchen Aberfan ereignete sich 1963 eines der schlimmsten Unglücke in der Nachkriegsgeschichte Großbritanniens: Am Fuß einer Halde waren vom Wasser gesättigte Grubenabfälle abgesackt…

… eine dunkle, gleißende Welle [brach] aus dem Hang heraus, ergoss sich bergab und riss die restliche Halde mit sich.

Der gewaltige Strom stürzte ins Tal, das Dorf wurde buchstäblich verschüttet – und mit ihm 144 Menschen. Dieses Unglück weckte das Interesse des 42-jährigen Psychiaters John Barker, der ein leitender Facharzt am Shelton Hospital und ein aufstrebender Wissenschaftler war.

Allerdings fuhr er nicht nach Aberfan, um den Hinterbliebenen psychologischen Beistand zu leisten, sondern vielmehr weil er von einem außergewöhnlichen Phänomen Kenntnis genommen hatte: Mehrere Einwohner hätten Tage vor der Katastrophe Vorahnungen geäußert.

Barker war fasziniert von außergewöhnlichen Geisteszuständen, arbeitete gerade an einem Buch über Menschen, die aus Furcht sterben, und hier erhoffte er sich, neues Material für seine Untersuchungen des Unheimlichen und Unerklärlichen zu finden. Er, der angesehene Schulmediziner, war sogar Mitglied der British Society for Psychical Research, einer Organisation zur Erforschung paranormaler Phänomene.

Eine neue Dimension der Psychiatrie

Barker glaubte, dass die Psychiatrie um eine ‚neue Dimension‘ erweitert werden könnte, die nur darauf wartete, in die derzeitige etablierte Wissenschaft integriert zu werden, sofern Ärzte sich nur davon überzeugen lassen wollten, (psychische) Störungen oder Zustände zu erforschen, die gemeinhin als randständig oder übernatürlich galten.

Der Journalist Sam Knight, der vornehmlich für den New Yorker arbeitet, hat nun ein verstörendes, beunruhigendes, spannendes Buch über diesen wissenschaftlichen Outsider, über „Vorauswissen“ und paranormale Erscheinungen geschrieben – und über das „Büro für Vorahnungen“, das Barker zusammen mit dem Redakteur Peter Fairley vom London Evening Standard ins Leben rief.

Ein Jahr lang sollten die Leser der Zeitung die Möglichkeit haben, ihre Träume und Vorahnungen einzureichen, die im Büro für Vorahnungen gesammelt und mit tatsächlichen Ereignissen rund um die Welt abgeglichen würden.

Sammlung unheimlicher Vorahnungen

Wer sich mit Vorahnungen befasst, verlässt rasch den Boden des Wissenschaftlichen. Sam Knight schildert auf raffinierte Weise die Entwicklungen rund um das Büro, die zwiespältige Rolle von John Barker, den einerseits Neugier, andererseits aber auch enormer Ehrgeiz antrieb.

Er nimmt ernst, was damals Mitte der 60er Jahre geschah, lässt mehr oder minder offen, was er selbst von den teils unheimlichen Berichten und Voraussagen hält, die zu Hunderten eingereicht wurden, und er wirft auch einen entlarvenden Blick auf die psychiatrischen Anstalten jener Zeit.

Knight befasst sich dabei nicht nur umfassend mit der Biografie Barkers, sondern auch mit der zweier Medien, die besonders viele Volltreffer landeten: Die Musiklehrerin Miss Lorna Middleton und der Postmitarbeiter Jakob Hencher sagten etwa beide ein furchtbares Zugunglück voraus.

Am 1. November fühlte sich die Musiklehrerin akut depressiv. Sie saß in ihrer Küche in Edmonton. ‚Langsam tauchte ein Streifen vor mir auf, dann ein Lichtblitz, dann eine Art grauer Nebel. Ich versuchte herauszufinden, wo genau das war‘, sagte sie später. ‚Das Wort ›Zug‹ drang immer wieder durch. Zug … Zug.‘ Miss Middleton schrieb ihre Vision nieder und sandte sie an das Büro: ‚Ich sehe einen Unfall … auf einer Bahnstrecke vielleicht … auch ein Bahnhof könnte betroffen sein … wartende Menschen am Bahnsteig … die Worte Charing Cross … ich hörte es buchstäblich KRACHEN.‘

Katastrophen können nicht verhindert werden

Allerdings war der Erfolg des „Büros für Vorahnungen“ am Ende doch überschaubar. Mit gutem Willen konnte man höchstens drei Prozent der eingegangenen Vorahnungen durch spätere Geschehnisse bestätigen. Wo eine übernatürliche Fähigkeit aufzublitzen scheint oder der Zufall eine entscheidende Rolle spielt, wo aus Unsinn Sinn konstruiert wird, das lässt sich eben schwer sagen.

Es geht dabei mehr um Glaubensfragen. Eigentlich möchte man, um eigener Verunsicherung vorzubeugen, der Welt doch lieber als einer rational erklärbaren begegnen. Überhaupt: Welche Funktion kann solch ein Büro erfüllen? Können Katastrophen wirklich verhindert werden?

Wenn Vorahnungen tatsächlich mit der Fähigkeit zu tun haben sollten, Bilder aus der Zukunft zu empfangen, wie vermutet wurde, dann würden die Warnungen sinnlos sein, weil die zukünftigen Ereignisse sich nicht ändern ließen.

Aber doch entsteht beim Lesen von Knights Debüt ein Gefühl für die Faszination, die Menschen wie John Barker angesichts des Unerklärlichen erfasst haben muss. Dass Barker übrigens selbst zum Objekt von Voraussagen wurde und sein Weg (wie von einigen Probanden antizipiert) ziemlich abrupt endete, das ist eine Pointe seines Lebens und des Buches, die man sich kaum besser hätte ausdenken können.

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