Claire Keegan ist eine Meisterin der kurzen Form. Kein Wort zuviel steht in ihren Erzählungen; jedes Detail hat eine Bedeutung. Ihr neues Buch „Reichlich spät“ hat gerade einmal 60 Seiten. Auf raffinierte Weise zeigt Keegan darin eine zum Scheitern verurteilte Beziehung.
Claire Keegan kann Männer. Das hat sie in ihren voran gegangenen Büchern bewiesen. Cathal, der Protagonist ihrer neuen, gerade einmal 60 Seiten umfassenden Erzählung „Reichlich spät“, ist allerdings kein Sympathieträger. Kein gewissenhafter Familienvater wie Bill Furlong in „Kleine Dinge wie diese“, kein barmherziger Beschützer wie Mr. Kinsella in „Das dritte Licht“.
Cathal ist ein Durchschnittsmann, und das ist das Schlimme daran. Wir begleiten ihn über gerade einmal 60 Seiten hinweg durch einen Tag seines nicht sonderlich spektakulären Lebens.
Ein kleingeistiger und misogyner Held
Cathal ist kein ganz junger Mann mehr, Angestellter in einer Behörde in Dublin, lebt aber in der kleinen Küstenstadt Arklow, etwa 70 Kilometer südlich von Dublin. Der Tag, an dem die Erzählung einsetzt, sollte der Tag sein, an dem Cathal und seine Verlobte Sabine heiraten.
Warum es nicht dazu kommt, erklärt der Erinnerungsfilm, der in Cathals Kopf abläuft. Zwei Jahre zuvor hatten Cathal und Sabine sich auf einer Tagung kennengelernt. Sabine mag das Leben auf dem Land.
Sie sammelt Pilze und Nüsse, kocht für Cathal, schläft mit ihm, alles mit scheinbarer Selbstverständlichkeit. Doch in Cathals Blick auf Sabine liegt das Grundmissverständnis dieser Beziehung:
Es ist glänzend, wie Claire Keegan es gelingt, ihren Protagonisten auf subtile Art und Weise zu entblättern, zu seinem kleingeistigen und misogynen Kern vorzudringen, ohne ihn explizit anzuklagen oder zu denunzieren.
Es sind wie immer bei Claire Keegan die sprechenden Details, die ihre Figuren indirekt charakterisieren; unbewusste Gesten, unkontrollierte Reaktionen. Sabine will, das ist die Schlüsselszene der Erzählung, im Supermarkt Kirschen für einen Kuchen kaufen; Cathal erklärt sich bereit, sie zu bezahlen.
Mehr als sechs Euro kosten sie. Dieser vermeintlich unverschämte Preis wird noch Wochen später Thema sein zwischen den beiden. Der Heiratsantrag, den Cathal Sabine am selben Abend macht, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, fällt dementsprechend aus:
Reflexion auf Frauenfeindlichkeit
Claire Keegan erweist sich auch in diesem schmalen Werk als eine Meisterin in der Darstellung von Machtstrukturen. Ganz unmerklich dreht sie in „Reichlich spät“ die Verhältnisse um.
Im letzten Drittel wird die Erzählung zu einer Reflexion auf vererbte Verhaltensmuster und gesellschaftlich internatlisierte Frauenfeindlichkeit. In seiner Wohnung sitzend, die für den Hochzeitsabend reservierte Champagnerflasche trinkend, ruft Cathal sich noch einmal die Gespräche ins Gedächtnis, die er mit Sabine geführt, die Vorwürfe, die sie ihm gemacht hat.
Das Raffinierte daran ist, dass er in allem, wie er Sabines Vorhaltungen ihm gegenüber für sich einordnet, ihre Sichtweise bestätigt. Cathal erinnert sich an einen Vorfall aus seiner frühen Erwachsenenzeit, als er mit seinem Bruder und dem Vater am Esstisch saß.
Die Mutter hatte Pfannkuchen gebacken. Als sie sich setzen wollte, zog der Bruder ihr den Stuhl weg; die Mutter fiel rücklings zu Boden und landete in den Scherben ihres Tellers. Alle drei Männer am Tisch lachten. Der Vater am lautesten. Kurz kommt Cathal, vom Champagner seiner abgesagten Hochzeit langsam beschwipst, ins Grübeln. Aber nur kurz:
Kein überflüssiges Wort
Über Claire Keegan wird gesagt, dass es in ihren Texten niemals auch nur ein überflüssiges Wort gibt. Und dass jedes Wort bei ihr auch von Bedeutung ist. „Reichlich spät“ ist ein brillantes Literatur-Kabinettstück, nicht so emotional mitreißend und bewegend wie die lange Erzählung „Das dritte Licht“.
Der Blick ist kälter, schärfer. Er richtet sich auf einen Jedermann-Charakter, der als Prototyp einer innerlichen Verrohung gezeigt wird. Ein Mann, der in der Tristesse seiner Einsamkeit einen letzten Triumph feiert: Weder vor noch nach dem Pinkeln wird Cathal, so denkt er sich, zukünftig den Deckel der Toilette herunterklappen müssen.
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Buchkritik Claire Keegan - Kleine Dinge wie diese
Irland in den 1980er Jahren: Claire Keegan erzählt in ihrem Roman "Kleine Dinge wie diese" vom Mut eines einfachen Mannes, der nicht mitschuldig werden will am Machtmissbrauch der katholischen Kirche. Eine eindringliche Geschichte über die Gefahr der Komplizenschaft, wenn Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können - aber auch über die Möglichkeit, das Richtige zu tun.
Rezension von Claudia Fuchs.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, 112 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-96999-065-0
Gespräch Claire Keegan – Das dritte Licht
Die Schriftstellerin Claire Keegan hat die Erzählung "Das dritte Licht" veröffentlicht, die in einer neuen, überarbeiteten Übersetzung vom Steidl Verlag veröffentlicht wurde. Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das von Pflegeeltern auf einem irischen Bauernhof aufgenommen wird, und spielt im perspektivlosen Irland des Jahres 1981. Die Erzählung wurde verfilmt und als erster irischsprachiger Film für den Oscar nominiert. Christoph Schröder, der Kritiker, hat die Erzählung gelesen. | Alexander Wasner im Gespräch mit Christoph Schröder. | Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser | Steidl Verlag,104 Seiten, 20 Euro | ISBN 978-3-96999-199-2