Buch der Woche

Roxane van Iperen - Ein Versteck unter Feinden

Stand
Autor/in
Eva Karnofsky

Als die Journalistin Roxane van Iperen 2012 ein altes Haus im niederländischen Naarden bezog, ahnte sie noch nichts von den geheimnisvollen Verschlägen überall im Haus.

Erst beim Renovieren stieß die Familie auf Luken in Böden und Wänden. Bald schon stellte sich heraus: Hier wurden im Zweiten Weltkrieg Juden versteckt.

Roxane van Iperen fing an zu recherchieren. In ihrem Roman „Ein Versteck unter Feinden“ erzählt sie nun die hochspannende Geschichte ihres geschichtsträchtigen Hauses.

Die Niederländer formierten Widerstand gegen die Nazis

Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die Niederlande, obwohl sich diese für neutral erklärt hatten. Nach der Bombardierung Rotterdams am 14. Mai kapitulierte das Land.

Ein deutscher Reichskommissar übernahm die Macht, unterstützt von der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande, seit 1931 ebenfalls eine Partei mit wachsendem Zulauf.

Damit begann die Verfolgung der jüdischen Niederländer. Widerstand, verzet auf Niederländisch, kam vor allem aus der Kommunistischen Partei und den Kirchen.

Durch einen Zufall stieß die Autorin auf den Romanstoff

Es entstand ein Netzwerk von Menschen, die Verfolgte versteckten, ihnen Lebensmittel und Ausweise besorgten und sie manchmal auch mit Gewalt aus den Händen der Nazis befreiten.

Der Zufall brachte die Journalistin Roxane van Iperen auf die Spur von zwei jüdischen Schwestern, die zum verzet gehörten. Ihr Buch „Ein Versteck unter Fremden“ erzählt davon.

Es wurde in den Niederlanden bereits über eine halbe Million Mal verkauft und soll verfilmt werden.

Beim Umbau entdeckte die Familie van Iperen merkwürdige Verschläge

Es begann im Jahr 2012: Die Journalistin Roxane van Iperen, ihr Mann und ihre drei Kinder bezogen ein altes Haus auf dem Land, in der kleinen Ortschaft Naarden, unweit vom Ijsselmeer.

Autorin Roxane Van Iperen
Autorin Roxane Van Iperen

Der Name des Hauses: 't Hooge Nest, zu Deutsch: das Hohe Nest. Und tatsächlich, das Haus aus alten, dunklen Ziegeln mit dem Reetdach und den fröhlichen roten Fensterläden liegt wie ein Nest auf einer kleinen Anhöhe zwischen Bäumen.

Beim Umbau stieß die Familie auf merkwürdige Verschläge.

„Die ersten Luken kamen zum Vorschein, als wir den Bodenbelag abnahmen. Dann fanden wir eine große Luke im Schlafzimmer von einem der Kinder. Am Anfang dachten wir uns nichts dabei und glaubten, es könnten auch Abstellräume sein. Und im Umbaustress kam uns nie die Idee, dass da eine Kriegsgeschichte hintersteckt.“

Bald war klar, dass es sich um Verstecke für Menschen handelte

Heute schläft dort einer von ihren Söhnen, aber eine Kerze erinnere noch an die Vergangenheit, sagt sie. Irgendwann stießen sie auch auf Kerzenstummel und alte Zeitungen des niederländischen Widerstands gegen die Nazi-Besatzer während des Zweiten Weltkriegs.

Zeugnisse dafür, dass in den Verstecken Menschen untergebracht waren. Die Journalistin erkundigte sich zunächst bei der Vorbesitzerin des Hauses.

„Sie konnte nichts Genaues sagen, nur, dass viele verschiedene Geschichten über die Zeit kursieren, Widerständler haben da gewohnt, aber auch Nazi-Offiziere. Sie erzählte auch, es seien damals jüdische Menschen in niederländischen Familien untergetaucht. Die wildesten Geschichten machten die Runde, und da dachte ich, jetzt finde ich das mal heraus.“

Der Roman ist das Ergebnis ausführlicher Recherchen

Sie recherchierte in den Archiven niederländischer Zeitungen und des Roten Kreuzes, den Dokumentationszentren der Konzentrationslager, im Frankfurter Anne Frank Archiv, in Steven Spielbergs Shoa-Archiv in Los Angeles, reiste nach Israel.

Das Ergebnis ist ihr Buch „Ein Versteck unter Feinden“, das sehr lesenswert ist, aber in Zeiten von wachsendem Rechtsextremismus und Fremdenhass besondere Bedeutung bekommt.

Das Schicksal der Widerstandskämpferinnen Janny und Lien Brilleslijper und ihrer Familien

Van Iperen beschreibt, was es heißt, wenn Menschen im eigenen Land gnadenlos verfolgt und ermordet werden, und zwar am Beispiel der bewegenden Geschichte der jüdischen Widerstandskämpferinnen Janny und Lien Brilleslijper und ihrer Familien.

Die haben ab 1943 ein Jahr lang in 't Hooge Nest gewohnt und dort 25 Menschen versteckt.

Die Angst vor Entdeckung ist ihr ständiger Begleiter, etwa, wenn Janny von einer Widerstandsaktion nach Hause zurückkehrt und eine alte chinesische Vase nicht im Fenster stehen sieht, das mit der Familie vereinbarte Signal für Gefahr im Haus.

Die Kinder der Brilleslijpers haben van Iperen bei ihrem Roman unterstützt

Im Interview spricht die Autorin Roxane van Iperen zwar lieber Niederländisch, doch sie liest auf Deutsch vor, wie Janny flieht:

Schnell geht sie auf dem Weg weiter, dann fängt sie an zu rennen. Trockene Sandschollen verlangsamen ihr Tempo, und sie knickt um, aber sie rennt weiter. Alle Müdigkeit ist von ihr gewichen. Da ist der Waldrand. Kein Zeichen von Robbie. Der Muschelweg raschelt unter ihren Füßen, das Haus taucht zwischen den Bäumen auf, und ihr Blick schießt sofort in die Höhe, zu den Läden des rechten Fensters im ersten Stock, direkt über der Namenstafel vom Hohen Nest. Die große chinesische Vase ist fort. Ihre Beine sinken unter ihr weg, und ihre Hand sucht Halt, den es hier nicht gibt. Ein Gedanke schießt ihr durch den Kopf: Wenn sie sich jetzt umdreht und wegläuft, in den Wald, hat sie eine Chance.

Roxane van Iperen hat für ihre Recherchen Kontakt mit den Kindern der Schwestern Brilleslijper aufgenommen, und die haben ihr nicht nur Briefe und Dokumentationsmaterial zur Verfügung gestellt, sondern auch ihre Erinnerungen an die Eltern und an jene Zeit mit ihr geteilt. Auch der im Text erwähnte Robbie. Er war damals ein Kind.

Nach einem sachlichen Bericht geht der Text in einen Roman über

So war sie ab einem bestimmten Punkt der Recherchen so nah dran an den Schwestern, dass sie sich dazu entschloss, nicht durchgängig an der Form des Sachbuchs festzuhalten.

„Alles, was im Buch steht, ist historisch belegt, recherchiert. Den ersten Teil hatte ich auch schon auf traditionelle Sachbuch-Art geschrieben, fand aber, das ist nicht, wie ich es will. Und dann dachte ich an Janny, die jahrelang ein Teil von mir war. Ich muss es auf die Art schreiben, die ich gut finde. Und Janny würde auch so denken. Du machst es so, sagte ich mir, dass die Schwestern deiner Meinung nach am besten zu ihrem Recht kommen.“

So ist der erste Teil ein sachlicher Bericht über die Familienmitglieder und ihr Umfeld. Den zweiten und dritten Teil des Buches aber erzählt die Autorin im Stil eines Romans.

Van Iperens Roman ist fesselnd und macht neugierig

Sie erzählt aus der Sicht von Janny, die im Widerstand die aktivere der beiden Schwestern war. Van Iperen schreibt im Präsens, gibt die Gefühle der Menschen wieder und rekonstruiert deren Dialoge.

Die Autorin wollte, „dass man ein Gefühl von Beklemmung bekommt. Dass man als Leser denkt, ich kenne diese Familie nun, ich mag diese beiden Schwestern irgendwie, ich weiß, welchen Charakter sie haben, und ich fühle die Beklemmung von den Razzien, die überall stattfinden, die Möglichkeit der Entdeckung, die Unterdrückung des jüdischen Teils der niederländischen Bevölkerung.“

Sie hat gut daran getan, denn so kommen die Protagonisten auch dem Leser sehr nah. Man identifiziert sich mit der Familie Brilleslijper und möchte wissen, wie es mit ihr weitergeht.

Durch die Ehe mit einem Niederländer gelang es Janny, sich als Nichtjüdin auszugeben

Lien, die ältere von beiden, war im Übrigen mit einem deutschen Musiker verheiratet, der aus der Wehrmacht desertiert war. Jannys Mann war Niederländer.

Deshalb gelang es auch Janny, als Nichtjüdin durchzugehen. Und als Nichtjüdin konnte sie, als in Amsterdam immer mehr Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, 't Hooge Nest anmieten.

Die Verstecke und Luken im Haus hat Jaap Brilleslijper eingebaut, der jüngere Bruder der Schwestern. Erst recht beklemmend wird der Schluss.

Anne und Margot Frank waren Freunde der Brillenslijpers

't Hooge Nest wird verraten, die Schwestern landen zunächst im Durchgangslager Westerbork, dann in Ausschwitz und schließlich in Bergen-Belsen.

Dort treffen sie, das verrät schon der Klappentext, zwei junge Mädchen aus ihrem Bekanntenkreis wieder: Anne und Margot Frank.

Durch den Regen nähert sich eine formlose Gestalt. Zwei kahl geschorene Köpfe, erfrorenen Vögelchen gleich, schälen sich heraus. Sie blicken sich an. Ein Gefühl der Wärme. Die Kiefermuskeln lockern sich. Ein Schrei der Freude löst sich, wird vom Wind mitgerissen. Dann werfen sie die Decken ab, und die vier fliegen einander weinend in die Arme. Es sind Anne und Margot.

Nach dem Krieg waren es die Brilleslijpers, die Otto Frank die Nachricht vom Tod seiner Töchter überbrachten

Anne Frank und ihre Schwester Margot überleben die schrecklichen Zustände in Bergen-Belsen nicht, und es sind die Schwestern Brilleslijper, die Otto Frank nach dem Krieg die Nachricht vom Tod seiner beiden Töchter überbringen.

Sie kannten einander aus Amsterdam, wo sich die Franks jahrelang versteckt gehalten hatten.

Roxane van Iperen nahm den Nachkommen eine Last von den Schultern

Lien und Janny Brilleslijper starben bereits vor vielen Jahren. Mit ihren Kindern, Robbie und Katinka, steht Roxane van Iperen weiterhin in engem Kontakt:

„Eigentlich sind unsere Familiengeschichten nun miteinander verwoben. Und sie sagen immer, dass es ihnen eine Last von den Schultern genommen hat, erstens zu wissen, dass nun zum ersten Mal die Geschichte wahrheitsgemäß auf dem Papier steht, und zweitens, dass wir nun in Freiheit in dem Haus wohnen.“

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