Buch der Woche

Roman Ehrlich - Malé

Stand
Autor/in
Loreen Dalski

In seinem Roman „Malé“ beschreibt Ehrlich die unheilvolle Zukunft der Malediven angesichts des Klimawandels. Der Meeresspiegel steigt unaufhaltsam, die Malediven stehen kurz vor dem Untergang.

Der Weltuntergang als ästhetisches Phänomen: Nach einem Regierungssturz ist die Hauptstadt Malé längst kein luxuriöses Urlaubsdomizil mehr. Der letzte verbliebene Malediver ist ein Fährmann, der Müll und Leichen in die verkommenen Swimming-Pools der ehemals touristischen Anlagen transportiert.

„Malé“ ist weder paradiesisch noch idyllisch

Ehrlichs Malé folgt nicht den Schemata herkömmlicher Inselromane. Malé wird nicht zum Spiegel idyllischer Zukunftsphantasien, wie sie seit Thomas Morus' Utopia oder Daniel Defoes Robinson Crusoe entworfen werden.

Ebenso wenig geht es um die Kehrseite, die Antiutopie, wie in Christian Krachts umstrittenen Roman Imperium.

Bis auf die rüstige Holländerin Hedi Peck, die schwimmende Landmasse aus Plastikmüll gewinnen will, ist der Roman frei von Visionen und alles andere als paradiesisch.

Der drohende Untergang ist kein Ereignis, sondern existentielle Verlorenheit

Auf dem Meer glitzert allein das Öl, die Stadt ist morsch und schimmlig und sporadisch werden Tote an den Strand gespült, die keiner zu vermissen scheint.

Die Neuzuwanderer bilden keine Gemeinschaft, sondern eine Ansammlung aus orientierungslosen „Egozentrikern und Introvertierten.“

Der drohende Untergang erscheint in Malé nicht als Ereignis, das Klarheit produziert oder Aktionismus auf den Plan ruft. Ehrlich erzählt vielmehr von einer existenziellen Verlorenheit, die auch durch die Gewissheit der Vergänglichkeit nicht zu tilgen ist.

Für Heldenerzählungen ist in Ehrlichs Roman kein Platz

Trotz der Trostlosigkeit der Insel behält Malé seine Anziehungskraft als Projektionsfläche diffuser Sehnsüchte. Desillusioniert beschreibt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Frances Ford die abstruse Inselgemeinschaft:

Ohne Kinder, denkt Ford, die man hier zeugen und auf die Welt bringen müsste, bestünde diese Inselgesellschaft doch immer nur aus Geflohenen, aus Ungewollten, Ausgestoßenen, aus Verlierern, Verbrechern und Versagern. Also aus den grundsätzlich der romantischen und totalitären Irrationalität zugeneigten Geistern, die endlich Teil einer Geschichte sein wollen, in der auch sie zu Helden werden können.

Doch nach großen Heldenerzählungen sucht man in dem Roman vergebens. Vielmehr haben sich die Figuren der Weltflucht und dem Weltschmerz verschrieben, wie der Tagebucheintrag des Lyrikers Judy Franks eindrücklich wiedergibt.

Die Protagonisten des Romans sind Romantiker des 21. Jahrhunderts

Sehnsucht nach Schmerztabletten, Selbstekel und existenzieller Überdruss. Schwere Zweifel. Ich habe so viel gezweifelt, dass ich jetzt ganz verzweifelt bin. Ich habe mich also verzweifelt, wie man sich verzettelt oder verirrt. Tagsüber geschrieben, bis Springteufel meine Schädeldecke durchbrochen haben. Abends mit den baumelnden Teufeln durch die Straßen gegangen.

In einem bedeutungsschwangeren Gewebe aus Metaphern und Symbolen sind die Figuren als marode Romantiker des 21. Jahrhunderts gezeichnet.

Der Mond spielt in „Malé“ eine entscheidende Rolle

Man trifft auf Szenen, die stark an die Gemälde Caspar David Friedrichs erinnern, auf romantische Symbole wie die blaue Blume als Inbegriff der Sehnsucht, vor allem aber auf den rätselumwobenen Mond.

Er begegnet in Reminiszenzen an Joseph von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, in rituellen Mondwanderungen und mondsichelförmigen Ziernarben der Figuren, als fatale Droge Luna, was im Lateinischen ebenfalls Mond bedeutet, oder sogar als grafische Trennung zwischen den Kapiteln.

Die Inselbewohner bleiben für Leser*innen ungreifbar

Doch wie alles in Malé hat sich auch der romantische Glanz des Mondes abgenutzt. Der symbolische Verschleiß deckt sich treffend mit dem der Figuren, wie die Einschätzung eines eingesessenen Professors bestätigt:

Anders als die anderen, inzwischen längst verstorbenen Alten, die mit ihm gemeinsam vor sehr langer Zeit hier angekommen sind, sind diese jungen Neuen, die in steigender Frequenz eingeflogen werden, mit neuem Geld und neuen Ressourcen, neuen Problemen und Neurosen, und die integriert werden müssen in die bestehenden Strukturen, in ihrer Sehnsucht nachtwärts gerichtet, nach innen und zurück, zum unerreichbar Vergangenen. Diese neue Generation, denkt der Professor, wird noch leichter und schneller als ihre Vorgänger verloren gehen an die Wirkung der Substanz, [der Droge Luna,] von der kaum einer, der gekostet hat, je genug bekommen kann.

Aus nüchterner Distanz verfolgen die Leser*innen den fatalen Verfallsgeschichten. Denn Ehrlichs Erzählstil zielt nicht auf Identifikation und verzichtet auf moralisierende Untertöne. Die Inselbewohner bleiben ungreifbar.

Unzählige Handlungsstränge befinden sich im Gewirr des Romans

Sie wirken, wie bezeichnender Weise ein in Malé versteckter Whistleblower bemerkt, nicht realistisch, sondern „eher erfunden“. Nicht allein durch derart versteckte Hinweise auf Ehrlichs Erzählstrategien wird der Lesefluss kontinuierlich unterbrochen.

Unzählige Handlungsstränge mit eigenen Binnenerzählungen stehen unverbunden nebeneinander und enden schlichtweg im Nichts. Figuren lassen sich oft nicht identifizieren und unheimliche Wesen mit Schwimmhäuten erscheinen, nur um unspektakulär im Gewirr des Romans zu verschwinden.

Hypotaktischer Satzbau macht die Lektüre des Romans fordernd

Zudem verlangen Seitenlange Schachtelsätze den Leser*innen Konzentration und Geduld ab. Hinter all dem verbirgt sich nicht die Ungeschicklichkeit des Autors, sondern eine Programmatik, die der Lyriker Judy Frank pointiert artikuliert:

Diese schreckliche Geste des Geschichtenerzählens. Wer die Welt so wahrnimmt – als einen Haufen guter Geschichten – , dem sollte man eigentlich das Schreiben verbieten. Wenn es noch um irgendwas gehen kann beim Schreiben, dann doch um das, was man eben nicht sofort erkennen kann, das Nichtwissen, die Ratlosigkeit, die Schweigsamkeit der Dinge, die Geheimnisse hinter den Symbolen und die Angst, die von diesem Unwissen, von der Leere und der Sinnlosigkeit ausgeht.

Die Story rückt in den Hintergrund

Der Roman will also keine spannende Story erzählen, Irritationen beheben oder Fragen klären. Die Ratlosigkeit der Figuren im Angesicht des drohenden Weltuntergangs spiegelt sich in der Unmöglichkeit eine erklärende Erzählhaltung zu diesem zu entwickeln.

Damit beschwört Roman Ehrlich noch einmal das Ende der großen Erzählung herauf, das der französische Philosoph Jean-François Lyotard bereits in den 1980er Jahren verkündete. Gemeint ist ein grundlegender Glaubwürdigkeitsverlust von hiesigen Erzählungen über gesellschaftliches Gelingen oder Scheitern.

Ebenso zersplittert der Roman in Mini-Erzählungen mit eigenständigen Perspektiven, die sich zu keinem sinnhaften Ganzen fügen sollen.

Der Roman ist eine Art Puzzle und eine anspruchsvolle Lektüre

Der Roman gleicht somit einem eigenwilligen Puzzle, das seinen Leser*innen zwar einiges abverlangt, allerdings ist die Frage nach der Zukunft ja auch eine ziemlich vertrackte.

Zugegebenerweise macht die sprachliche und inhaltliche Komplexität den Roman zu einer anstrengenden Lektüre mit manchmal eingeschränktem Unterhaltungswert.

Die nachhaltige Wirkung seiner intellektuellen und bilderreichen Reflexionen lohnt die Mühe aber allemal.

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