Ein Roman als Fiebertraum. Schauplatz von Raphaela Edelbauers „Die Inkommensurablen“ ist Wien vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Tiroler Pferdeknecht Hans, der Adlige Adam und die angehende Mathematikerin Klara taumeln durch die Donau- Metropole, die sich vor der Mobilmachung Ende Juli 1914 in einem Ausnahmezustand befindet. Inkommensurabel, also nicht auf ein gemeinsames Maß zu bringen, sind in diesem sprachlich nicht überzeugenden Text nicht nur Zahlen, sondern auch Lebensläufe und die Weltgeschichte überhaupt.
Die 1990 in Wien geborene Schriftstellerin Raphaela Edelbauer hat schon zu Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere für Aufsehen gesorgt: Nach einigen Veröffentlichungen in Literaturmagazinen, nahm sie 2018 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil und gewann mit einem Auszug aus ihrem Debütroman „Das flüssige Land“ den Publikumspreis. Der Roman ist schwarzhumorige und surrealistische Anti-Heimatliteratur, stand auf der Shortlist des Deutschen sowie Österreichischen Buchpreises.
Vor zwei Jahren folgte der Science-Fiction-Roman „DAVE“, der von einer künstlichen Intelligenz erzählt, die zur Ersatzreligion für die Überlebenden einer Katastrophe wird. Für „DAVE“ erhielt Edelbauer nicht nur euphorische Besprechungen, sondern auch den Österreichischen Buchpreis. Mit ihrem dritten Roman, der den ambitioniert wirkenden Titel „Die Inkommensurablen“ trägt, wechselt die Autorin wiederum das Genre und bleibt sich aber, was die surrealen Momente angeht, auch treu. SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte stellt das Buch vor.
Hans Ranftler hat sieben Jahre als Pferdeknecht auf einem Tiroler Bauernhof geschuftet, als er beschließt, ein neues Leben in der großen Stadt zu beginnen, und zwar ausgerechnet kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch die politische Lage und die Verwerfungen in der österreichischen Gesellschaft beschäftigen ihn zunächst weniger. Er ist unzufrieden mit dem, was er bislang erreicht hat. Mit seinen schulischen Leistungen hätte er das Gymnasium besuchen können, aber der früh verstorbene Vater und die ärmlichen Familienverhältnisse machten eine Hochschulreife unmöglich. Ungebildet ist Hans keineswegs.
„Im Gegensatz zu den anderen am Hof hatte Hans eine ununterdrückte Leidenschaft angetrieben, das, was er in der Schule gelernt hatte, nicht zu verlieren, und der Stumpfsinn des Alltags hatte diesen Hunger nie auslöschen können.“
Damit wäre – wenn auch nicht elegant – eine klassische Ausgangssituation für einen Bildungsroman beschrieben, aber Raphaela Edelbauer verfolgt mit „Die Inkommensurablen“ ein anderes Ziel, was schon der betont anspruchsvolle Titel andeutet. Es geht der Autorin vor allem darum, in einen entscheidenden Moment der europäischen Zeitgeschichte einzutauchen, der viele Menschen im Zentrum Österreichs zusammenführt, die dennoch wenig gemeinsam haben. Weil sie aus unterschiedlichen Milieus stammen oder individuelle Pläne verfolgen.
Hans möchte sich nicht nur von der ländlichen Fron befreien, er sucht auch eine Erklärung für ein Phänomen, das ihn seit Kindertagen umtreibt: Manchmal kommen ihm Gedanken, die kurz darauf von anderen ausgesprochen werden. In der Zeitung hat er eine Anzeige der Psychoanalytikerin Helene Cheresch gefunden, die er in der Hauptstadt des siechenden Habsburger-Reichs umgehend aufsucht.
„Ich bin nach Wien gekommen, weil ich eine Gabe habe, an deren Beschreibung Sie und an deren Ergründung ich größtes Interesses habe.“
Das ist mal eine Ansage für einen Pferdeknecht, mag man sich denken, aber in diesem Roman wird ohnehin gesprochen, wie die meisten Menschen selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht geschrieben haben. Die Analytikerin Cheresch interessiert sich für dieses, wie sie sagt, „Gedankenecho“ zwar nicht übermäßig, aber sie bietet Hans, der nicht mal ein Honorar zahlen kann, dann doch einen Termin an.
So lernt der Protagonist bald zwei junge Leute aus dem Umfeld der Analytikerin kennen: Zum einen den snobistischen Adligen Adam Jesensky, der auf Wunsch des Vaters in den Krieg geschickt wird. Zum anderen Klara Nemec. Sie kommt wie Hans aus einfachsten Verhältnissen und hat es mit Helenes finanzieller Unterstützung geschafft, als eine der ersten Frauen in Wien ein Mathematikstudium zu absolvieren.
Ihre Promotion befasst sich passenderweise mit dem Thema der Inkommensurabilität, also mit Zahlen, die in keinem rechnerischen Verhältnis stehen, indem sie zum Beispiel keinen gemeinsamen Teiler haben. Abstrakt sind Klaras Formulierungen aber auch, wenn sie mit Adam über den bevorstehenden Krieg streitet.
„Du hypostasierst da etwas zu einem Ideal, das für viele zu einer sehr weltlichen Realität werden wird. Es werden nicht viele Menschen sterben, Adam, das zu beschönigen ist nicht sittlich.“
Tatsächlich werden Klara, Hans und Adam, die sich schon bald als Freunde begreifen, in nur wenigen Stunden eine ganze Reihe von Orten im Untergrund der Stadt aufsuchen, in denen es alles andere als sittlich zugeht. Jedenfalls für die Maßstäbe eines Tiroler Bauernjungen.
„Hans konnte seine Wut nicht mehr im Zaum halten. Männer griffen anderen Männern ans Gesäß, und dazwischen bevölkerten seltsam geschminkte Halbweltweibchen das Parkett. Alle handelten, als wären sie allein auf der Welt. Hatten diese Menschen denn nicht den geringsten Anstand?“
Nicht nur im unterirdischen Lokal namens Trabant, in dem gesoffen, gehurt und getanzt wird, herrscht eine düstere Endzeitstimmung. Die Auflösung der bekannten Normen und Werte betrifft alle gesellschaftlichen und vor allem auch kulturellen Bereiche.
Schönberg hat gerade sein zweites Streichquartett aufführen lassen und damit die tonale Musiktradition verabschiedet. Das angestammte Publikum ist empört, die Jungen aber feiern den visionären Komponisten. Etwas schulmeisterlich heißt es bei Raphaela Edelbauer:
„Genau dieser Sinn für das Inkommensurable hatte sich in den Jugendlichen manifestiert, die während jener visionären Konzerte applaudiert hatten.“
Dieser Roman ist ein widersprüchlicher Mischtext. Es handelt sich einerseits um ein literar-historisches Wimmelbild, das die Wiener Stimmungslage in jenen Stunden vor dem 31. Juli 1914 einzufangen versucht. Andererseits liest sich das Buch wie eine Karikatur dieser Krisenzeit, was nicht zuletzt am seltsamen Gelehrtenjargon liegt, in dem nahezu alle Figuren immerfort parlieren.
Es ist nicht leicht, den inhaltlichen und ästhetischen Fokus des Buchs zu bestimmen, in dem alles möglichst inkommensurabel daherkommen soll. Einen neuen Blick auf jene fatale Epoche der europäischen Geschichte, der über den aktuellen Forschungsstand hinausgeht, liefert der Roman meines Wissens nicht. Es handelt sich gewiss um eine redliche Recherche-Leistung, aber die vielen Aspekte führen auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit.
Möchte Raphaela Edelbauer vor allem witzig sein? Die intellektuellen Kunstsätze mit ausgefallenen Fremdwörtern mögen anfangs noch irritieren oder vielleicht auch amüsieren, doch auf Dauer ermüdet die gedrechselte Sprache, zumal man das Stilmittel auch aus Edelbauers Vorgängerroman „DAVE“ kennt, in dem eine durch künstliche Intelligenz kontrollierte und bizarr isolierte Welt erzählt wird.
In beiden Texten soll das Unwirkliche der Situation sprachlich abgebildet werden, doch in den „Inkommensurablen“ funktioniert diese Ästhetik nicht. Manche Formulierungen sind nun so offensichtlich gekünstelt, dass es nicht komisch, sondern peinlich wird.
„Gegen vier Uhr hatte die Novität der Situation sich abgenützt.“
Der Roman ist nicht nur sprachlich übersteuert, sondern auch inhaltlich überfrachtet. Mit der Suffragette Helene erleben wir nicht nur eine Vorkämpferin für die Frauenemanzipation und der queeren Liebe, sondern auch eine Forscherin von Traumclustern. Hans ist so beeindruckend von der Idee eines sogenannten Säkulumclusters, in dessen Mittelpunkt ein geheimnisvolles Dorf steht, dass er meint, diesen Traumweiler tatsächlich betreten zu haben.
Viele Themen und Thesen werden in diesem Buch angerissen, es geht um Mathematik und Musiktheorie, um Klassenkampf und Konservatismus, um Freiheit und Fiktion, um Krieg und Frieden, aber unterm Strich bleibt nur wenig Erkenntnis und der Eindruck, viele ungelenke Dialogsätze gelesen zu haben. In Adams Elternhaus etwa sagt ein Gast über die für ihn wahrhafte Feudalwelt:
„Die Distinktion ist, dass unsere Kultur aus einem heiligen Pflichtbewusstsein heraus entsteht, versus eine Zivilisation griechisch-römischen Typus, der um seiner selbst willen den Fortschritt fetischisiert -“
Selbst als Parodie wirken solche Auslassungen nicht erhellend, auch weil das ideologische Gegenmodell, das Klara vertritt, deutlich zu eindimensional angelegt ist. Sie begreift den Krieg vor allem als Chance für gelangweilte Männer, endlich mal was zu erleben und die Fortschritte in der Emanzipation zurückzudrehen.
Sie nennt die nationalistischen Typen, die freudig an die Front ziehen, abschätzig die „Fadisierten“, die aber nur das Leid der Arbeiterklasse mehren werden. Auch deshalb ist sie froh, mit der eigenen Familie, die solche Zusammenhänge nicht begreift, nichts mehr zu tun zu haben. Über ihre Eltern wird Klara abschließend sagen: „Ich habe gar kein Gemeinsames mit ihnen, wir sind inkommensurabel.“
Damit ist für alle, die es immer noch nicht begriffen haben, das Grundmotiv des Romans noch einmal erwähnt. Ironischerweise wirkt Klara in solchen Szenen wie eine Figur aus der fernen Zukunft. So belehrend, wie sie auftritt, könnte sie auch in gegenwärtigen Debatten erfolgreich mitmischen. Der naiv-gebildete Kerl vom Lande aber darf noch einmal mit nahezu traumwandlerischer Unsicherheit feststellen: „Es schien alles gar nicht real.“ Zum Glück enden selbst obskure Hirngespinste irgendwann.
„Ihre Wege würden sich trennen. Sie hatten die unsichtbare Grenze überquert, den Außenposten ihrer träumerischen Reise – und nun waren sie aufgewacht.“
Im Grunde hätte der Roman an diesem Punkt, an dem er aufhört, beginnen können, ganz ohne Traumerzählungen, unsichtbare Grenzen und fiktive Außenposten. Es wäre interessant zu erfahren, was mit Klara und Helene, Hans und Adam in den Kriegswirren passiert. Dann gäbe es auch Zeit und Raum, sich mit der Ausarbeitung der Charaktere zu beschäftigen, die als Platzhalter für allerlei Ideen und Weltanschauungen herhalten müssen und figurenpsychologisch eher schablonenhaft angelegt sind. Der Roman „Die Inkommensurablen“ scheitert leider an seinen maßlosen Ansprüchen.
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Rezension von Pascal Fischer.
Roman
Klett-Cotta Verlag
ISBN 978-3-608-96436-3
350 Seiten
22 Euro
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