Durga, erfolgreiche Drehbuchautorin aus Köln, soll die Agatha Christie Krimis neu überarbeiten. Gegen einen schwarzen Hercule Poirot regt sich Widerstand - doch dann stirbt die Queen. Plötzlich ist es 1906 und Durga mitten im indischen Unabhängigkeitskampf.
Was sagt Ihnen Vinayak Savarkar, was Madan Lal Dhingra? Mohandas Gandhi? Moment, das war doch der mit dem gewaltfreien Widerstand? Schon richtig. Aber was diese Drei verbindet ist: Sie haben um das Jahr 1906 im Londoner „India House“, einem Studierenden-Wohnheim, gelebt oder sich dort getroffen.
Haben konspiriert oder sogar Bomben gebaut. Mitten in Highgate, im Herzen des Britischen Empires, wurde die Unabhängigkeit Indiens von genau diesem Empire geplant.
Ein Roman wie ein Mikadospiel
Der Roman reist buchstäblich in die Zeit zurück, ins Jahr 1906. Er ist sinnlich und fantastisch, voller Bezüge und Verweise: Wie kommt etwa Sherlock Holmes ins Spiel, und was hat das Ganze mit der Kultserie „Doctor Who“ oder dem Tod der Queen im September 2022 zu tun?
Mithu Sanyal baut einen Roman wie das Gewirr von Mikado-Stäbchen, das eine innere Logik zusammenhält. Ein Ziehen bringt alles in Bewegung.
Es beginnt mit einer Panne, die etwas Tragikomisches hat: Die fünfzigjährige Durga will die Asche ihrer Mutter verstreuen, aber ein Windstoß weht sie ihr und den Trauergästen ins Gesicht, zwischen die Zähne. Durga aus Köln ist Drehbuchautorin. Das Verhältnis zu ihrer deutschen Mutter war schwierig, ihr Vater ist aus Indien. Und die Mutter lässt sie nicht los, die lineare Zeit wird löchrig.
Ein schwarzer Detektiv Poirot?
Durga reist kurz danach nach London, mit anderen Autorinnen und Autoren soll sie den Plot für einen neuen Film nach einem Roman von Agatha Christie entwickeln, allerdings anti-rassistisch, feministisch.
Detektiv Hercule Poirot, ein Schwarzer? Dagegen regt sich Widerstand: Vor dem Gebäude der Filmfirma wird gegen das vermeintliche Auslöschen der britischen Kultur demonstriert. Doch dann -
stirbt die Queen. Aus dem Jenseits erreicht Durga eine Nachricht ihrer Mutter. Und völlig unerwartet rutscht sie durch die Zeit, findet sich im Jahr 1906 wieder. Und nicht als Frau, sondern als junger indischer Mann. Ein ekstatischer Moment.
Die Lektüre ist kein Spaziergang
Der Titel „Antichristie“ bezieht sich auf das Umschreiben von Agatha Christies weißen Figuren, aber auch auf den „Anti-Christ“: Gemeint ist hier der fast dämonische Freiheitskämpfer Savarkar. Ausgerechnet in ihn verliebt sich Sanjeev, so heißt Durga in ihrem neuen Ich. Savarkar, der Jahre später zum Vordenker des radikalen Hindu-Nationalismus wird.
Der Roman flimmert vor historischen Bezügen, vor Pop-Zitaten und postkolonialer Debatte, das macht das Lesen nicht zum Spaziergang. Mithu Sanyal legt den Finger in die Wunde der kollektiven Ignoranz des Westens, macht es aber mit Humor.
Zusammen mit Sherlock Holmes will Sanjeev ein Attentat im „India House“ aufklären, und immer wieder bricht die Gegenwart in die Vergangenheit. Es wird klar, dass „Antichristie“ selbst ein Kriminalroman à la Agatha Christie ist.
Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt: Die Asche fliegt uns als Lesenden zurück in den Mund. Als die Geschichte, die wir ignorieren, unterdrücken, nicht sehen wollen. Brillant.