Buchkritik

Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand

Stand
Autor/in
Judith Reinbold

Nach dem Tod ihres Vaters erfährt Marta Barone von dessen Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei PCIM-L. Aber war er tatsächlich an den Attentaten einer parteinahen Terrorgruppe beteiligt? Marta geht auf Spurensuche und deckt dabei nicht nur die geheimnisvolle Vergangenheit ihres Vaters auf, sondern erzählt eindrücklich von den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen im Turin der 70er- und 80er Jahre.

Wenn er im Auto sang, bewegte er die Arme dazu wie Windmühlenflügel, unterstrich einzelne Verse mit feierlichen Gesten und rief: »Verstehst du? ›Le grandi gelaterie di lampone che fumano lente‹ – die großen, qualmenden Himbeereisfabriken. Was für Poesie!« »Lass die Hände am Steuer! Wenn wir draufgehen, ist Schluss mit Poesie«, erwiderte ich trocken. Aber meistens sang ich mit, genauso falsch und mit beinahe genauso wilden Gesten.

Es ist einer der wenigen unbeschwerten Momente an die sich Marta Barone in „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ erinnert. Die beiden teilen die Leidenschaft für die Literatur, die Poesie und das Meer. Und doch erlebte die Autorin ihren 1945 geborenen Vater Leonardo meist als distanzierten, oft rätselhaften Mann.

Marta Barone geht auf Spurensuche

Nach seinem Tod begibt sich die junge italienische Schriftstellerin deshalb auf Spurensuche. Sie trifft ehemalige Bekannte des Vaters, liest seine Briefe, Presseberichte und sammelt Fotos. Schließlich erfährt sie von Leonardos Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei PCIM-L und von schwerwiegenden Anschuldigungen gegen ihn.

Rasch blätterte ich [die Verteidigungsschrift] durch. Sechzehn Seiten, Fotokopien des maschinengeschriebenen, paginierten Originals. ‚In erster Instanz wurde der Berufungskläger der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Prima Linea für schuldig befunden, da als erwiesen angesehen wurde, dass „der Barone“ […] der Organisation substanzielle Dienste geleistet hat, indem er die medizinische Versorgung eines ihrer Aktivisten übernahm […]‘

Jedes Gespräch und jedes Dokument fördern neue Erkenntnisse zutage – und werfen zugleich neue Fragen auf, die Archivfotos und Akten nicht beantworten können: Warum kehrt der reflektierte junge Mann dem akademischen Leben den Rücken? Was führt dazu, dass der examinierte Arzt einer Parteiideologie folgend als Straßenbahnputzer arbeitet?

Marta Barone weiß, dass diese Fragen nach dem Tod Leonardos für immer unbeantwortet bleiben. Und doch versucht sie, sich dem Unbekannten vorsichtig anzunähern. Ihre Gedankenspiele ermutigen auch Leserinnen und Leser dazu, Situationen wie etwa Leonardos Ausharren in der Untersuchungshaft nachzuempfinden.

Was mag er da drin wohl empfunden haben, abends, wenn es nichts zu tun gab? Während er in der stickigen Zelle saß und das Tageslicht schräg durch das kleine Fenster fiel? Wenn er auf einen Stuhl stieg, so schreibt er in einem Brief, konnte er die umliegenden Dächer sehen. Fragte er sich, wann er wieder echtes Tageslicht zu sehen bekäme, außerhalb der Mauern?

Vieles erinnert an heutige Entwicklungen

Nach und nach löst sich die Erzählung von der Familienbiografie und widmet sich den gesellschaftlichen Entwicklungen im Italien der 70er und 80er Jahre. Die Autorin erzählt von den prekären Lebensumständen der Arbeiter, von den Sorgen und Nöten der Bevölkerung und der schleichenden Radikalisierung einer Protestbewegung – die am Ende ein ganzes Land in Angst versetzt.

Im sogenannten ‚Heißen Herbst‘ 1969 demonstrieren die Fabrikarbeiter des Automobilherstellers Fiat in Turin gegen den übermächtigen Konzern. Sie lösen eine Protestwelle aus, die sich bald über ganz Italien erstreckt. Die Stimmung heizt sich immer mehr auf und bald stehen Messerstechereien und Straßenkämpfe in fast allen Großstädten auf der Tagesordnung.

Mit Sorge erkennt man beim Lesen die Parallelen zur heutigen Gesellschaft: Wohnungsnot, finanzielle Sorgen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden befeuerten die populistischen Kräfte schon damals. Das macht den Roman hochaktuell – und die Szenen, in denen sich zeigt, wie plötzlich Frust und Wut in Gewalt umschlagen können, umso beklemmender.

[…] Tonino Miccichè, ein fünfundzwanzigjähriger Sizilianer [...] war ein geschickter Organisator […] und hatte alles so hervorragend geregelt, dass man ihn scherzhaft den »Bürgermeister von Falchera« nannte. Dort, in Falchera, war einem der »offiziellen« Wachmänner versehentlich eine zweite Garage zugeteilt worden, und die Besetzer hatten ihn mehrfach gebeten, sie ihnen für ihre Treffen zu überlassen, damit sie abends nicht immer so viel Lärm auf der Straße veranstalten mussten. Doch der Wachmann blieb eisern. Eines Abends brachen sie deshalb kurzerhand die Garagentür auf und schoben das Auto davor. […] Ein paar Minuten später schnappte der Wachmann sich seine Pistole und kam […] herunter. Miccichè trat versöhnlich lächelnd auf [ihn][…] zu. Der Wachmann schoss ihm genau zwischen die Augen.

Die Autorin hält sich an Fakten, vergisst aber die Emotionen nicht

Marta Barone deckt die dunklen Ecken der jüngeren italienischen Geschichte auf und orientiert sich dabei eng an den Fakten. Sie verzichtet auf aufbauschende, dramatisierende Formulierungen und vermeidet Spekulationen über die persönlichen Motive und Gefühle der Menschen.

Trotz der sachlichen Beschreibungen weckt die Erzählung auch Emotionen. Fesselnd und in wunderbaren Sprachbildern erzählt Marta Barone von dem, was sie selbst wahrnimmt und mit Sicherheit sagen kann. Diese detailverliebten, poetischen Skizzen übersetzt Jan Schönherr hervorragend ins Deutsche.

Meine Vergangenheit erschien mir wie ein einziger, langer Tag […] Vage, aber deutlich wahrnehmbar, empfand ich völlige Kontinuität zwischen meinem Bewusstsein von mir selbst mit acht, zwölf oder zwanzig Jahren und dem von heute. Das meiste, was ich gesehen und erlebt hatte […], war mir so präsent wie meine gelbe Obstschale, wie die Grille, die den Sommer überlebt hatte und noch immer einsam vor meinem Fenster zirpte, wie das Glucksen des Neugeborenen von nebenan.

Gastland Italien hält noch viele Entdeckungen bereit

Der autofiktionale Roman ist eine vielschichtige Erzählung, die weit über die Biografie des Vaters hinausgeht. Kunstvoll verwebt Marta Barone die persönliche Geschichte des Vaters mit der Geschichte Italiens und Vergangenes mit Gegenwärtigem. Erstmals wurde ein Roman der erfolgreichen italienischen Schriftstellerin ins Deutsche übersetzt. „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ zeigt, dass Italien, das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse, nicht nur mit politischen Kontroversen auf sich aufmerksam macht, sondern es dort vor allem literarisch noch viel zu entdecken gibt.  

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Autor/in
Judith Reinbold