Herr Kiyak hat jahrzehntelang als sogenannter Gastarbeiter in Deutschland Kupferkabel mit giftigem Lack überzogen. Seinen Lebensabend genießt er jetzt mit seiner Liebsten in der Türkei, aber um seine Rentenansprüche nicht zu verlieren, muss er alle sechs Monate für einige Zeit in Deutschland bei seiner Tochter wohnen.
Diesmal treibt ihn sein ständiger Husten zum Arzt, und es stellt sich heraus, dass Herr Kiyak Lungenkrebs hat. Seine Tochter, die Schriftstellerin Mely Kiyak, weigert sich, den Vater so ohne Weiteres gehen zu lassen. Mit großer Leidenschaft macht sie sich daran, den Vater ins Leben zurückzuholen.
Kümmern um den todkranken Vater
Morgens und abends fährt sie eine Stunde von Berlin in die märkische Klinik, um dem Vater ein wenig Heimat in der ihm fremden Umgebung zu verschaffen. Sie bringt frische Handtücher, Obst und Tee, versprüht Desinfektionsmittel und legt sich mit allen Ärzten an.
Herr Kiyak hat Fieber, die Chemotherapie schlägt nicht an. Die Tochter verlangt eine OP, die wegen des Fiebers aber zu gefährlich ist.
In der krisenhaften Situation werden die Geschichten kostbar, die der Vater früher aus der Zeit erzählte, als er noch in Bingöl in der Türkei lebte. Die Autorin schiebt sie zwischen die Berichte über Diagnosen und Therapien ein; ein kluger Kunstgriff, denn in diesem Buch geht es nicht ums Sterben, sondern um das Leben. Es sind Geschichten aus einer anderen Welt, erzählt mit orientalischer Fabulierlust.
Zum Beispiel hat sein Großonkel einmal den Angehörigen einer anderen Sippe erschossen, was zu einer Blutfehde zwischen den beiden Familien führte. Irgendwann ritt der Großonkel zu der Mutter des Ermordeten und bat um Vergebung, die ihm erst gewährt wurde, nachdem er die ihm vorgesetzte tote Maus verspeist hatte. Man müsse allerdings, schreibt Mely Kiyak einmal über die Erzählbegeisterung in ihrer Familie, immer die Hälfte abziehen, um in die Nähe der Wahrheit zu gelangen.
Elend des deutschen Krankenhausalltags
In der Gegenwart gibt es keine märchenhaften Stories, sondern das Elend des deutschen Krankenhausalltags. Das Frühstück kommt Stunden zu spät; nach der Bronchoskopie bekommt der ausgehungerte Patient eine Scheibe Brot. Er ist unterzuckert; statt einem Stück Obst erhält er ein Diabetes-Medikament, obwohl er keinen Diabetes hat.
Eine OP wird angekündigt, der Anästhesist bereitet den Kranken vor, dann stellt sich heraus: Es war ein Fehler im OP-Plan. Herrn Kiyak geht es immer schlechter. Die Großfamilie rückt an. In der Küche von Mely in Berlin werden Mahlzeiten zubereitet; man versammelt sich um das Bett und drängt den Kranken zum Essen. In dem Provinzkrankenhaus kommt das nicht gut an.
Mely hat es mit Beziehungen geschafft, für die Liebste des Vaters ein Visum zu beschaffen. Später wird eine verärgerte Krankenschwester dafür sorgen, dass sie Tausende Euro für die Übernachtung der Frau im Klinikzimmer zahlen muss, obwohl man der Familie das Geld erlassen könnte.
Erst in einem Gespräch mit dem Krankenhauspsychologen, der vorsichtig von „fürsorglicher Belagerung“ spricht, begreift die Tochter, dass der Vater seinen eigenen Prozess durchmacht, den sie nicht stören darf.
Zeugnis einer großen Vater-Tochter-Liebe
Mely Kiyak schreibt in der Ich-Form, sehr persönlich und mitreißend aufrichtig. Sie erzählt von Wut, Verzweiflung und Erschöpfung und findet eine überzeugende künstlerische Form für das Gefühl der Ohnmacht, das jeder kennt, der jemals einen Schwerkranken begleitet hat.
Als der Vater endlich doch operiert wird, sitzt sie sechs Stunden lang auf der Treppe vor dem OP-Saal und schickt ihm im Geist ihre Energie. Einst kämpfte der Vater für das Leben seiner zweijährigen Tochter in der Türkei, jetzt tut die Tochter dasselbe für ihn. Dieses wunderbare Buch ist vor allem das Zeugnis einer großen Vater-Tochter-Liebe.