Schreiben als Widerstand

Buch der Stunde: „Werden sie uns mit FlixBus deportieren?“ von Mely Kiyak

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Autor/in
Eva Marburg

Nach Bekanntwerden der Correctiv-Recherche wurde in den sozialen Medien immer wieder auf das sogenannte „Buch der Stunde“ hingewiesen, den Kolumnenband „Werden Sie uns mit Flixbus deportieren?“ von Mely Kiyak.

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Literarische Machtumkehr der rechten Verhältnisse

In dem Band, der ihre gesammelten Kolumnen für das Gorki-Theater in Berlin umfasst, zeigt sich Kiyak als genial unnachgiebige Beobachterin des politischen und gesellschaftlichen Geschehens in Deutschland. Alles geschrieben mit einer Dosis ihres „diabolischen Humors“, wie Kiyak ihn selbst nennt.

Ihr Schreiben ist Widerstand, ist eine literarische Machtumkehr der rechten Verhältnisse, der politischen und ausgrenzenden Gewalt, wie sie in Leitkulturdebatten oder in Diskussionen um Integration zum Ausdruck kommt.

Viele kleine Beiträge zu Deutschlands Verschiebung nach Rechts

Zu Gast in dem Podcast „Trauer und Turnschuh“ beschrieb Mely Kiyak Deutschlands Verschiebung nach Rechts so: „So etwas passiert ja in verschiedenen Etappen. Ein bisschen was passiert bei einem Politiker, ein bisschen was passiert in der Kultur, ein bisschen was geben ein paar Schriftsteller hinzu. Jeder gibt ein bisschen was dazu.“

Hanau, Höcke, NSU, Silvesternacht in Köln, Ermordung Lübckes, ...

All diese Hinzugaben, hellsichtig analysiert, kann man in den gesammelten Kolumnen, die 2022 als Buch erschienen sind, noch einmal nachlesen. Viele verschiedene Zutaten und Anekdoten zu Rechts hat Deutschland in den letzten Jahren da zusammengerührt, die Kiyak ihrer gnadenlosen Betrachtung unterzieht: Hanau, Björn Höcke, der NSU-Komplex und die Silvesternacht in Köln, die Ermordung Walter Lübckes, der Vorschlag eines Bürgermeisters, Geflüchtete in einem ehemaligen KZ unterzubringen, bis hin zu den immer wieder geäußerten Deportationsplänen, die ja nicht erst seit neulich in rechtsextremen Kreisen artikuliert werden.

In der Kolumne „Werden sie uns mit FlixBus deportieren“, die nun wie der gleichnamige Sammelband in den Sozialen Medien als das „Buch der Stunde“ geteilt wurde, wird Kiyaks Schreiben als widerständige Praxis deutlich. 

Wir saßen da und ich sagte: Memo, was glaubst Du, bringen sie uns mit der Deutschen Bahn ins Lager? Er sagte: Deutsche Bahn? Träum weiter! Die wollen, dass wir dort auch ankommen. Die deportieren uns mit FlixBus.

Damit rechnen, dass eine rechte völkische Partei stärkste Kraft wird

Mit einer radikalen Perspektivumkehr blickt Kiyak auf deutsche Realitäten und zeigt so: Die große Überraschung und ungläubige Verwunderung, mit der hierzulande in regelmäßigen Abständen auf rechtsextreme Pläne reagiert wird, können sich nicht alle leisten.

Schreiben bedeutet hier in gewisser Weise auch eine Überlebensstrategie, nämlich, sehr bewusst mit genau den realistischen Folgen zu kalkulieren, die eintreten werden, sollte eine rechte völkische Partei stärkste Kraft werden.

In ihrer soeben erst erschienenen Kolumne zur Correctiv-Recherche spitzt sie das sogar noch zu: Bevor sie deportiert wird, will sie selbst ein Deportationsunternehmen gründen. Name: CiaoNow oder MadagasCar.

Warum sollten nur die Anderen profitieren und nicht wir, die wir ausgebürgert und weggevolkt werden sollen. Bei Deportationen handelt es sich um einen lukrativen Wirtschaftszweig.

Literarisches Mittel der Machtumkehr

Mely Kiyak arbeitet beeindruckend mit dem literarischen Mittel der Machtumkehr: Indem sie sich die Management-Sprache der Politik aneignet, legt sie deren Unmenschlichkeit offen. Für sie als Autorin ist das auch eine Strategie, Sprache vor rechter Vereinnahmung zu schützen und zu verteidigen. Zu Recht also ein aus aktuellem Anlass neu entdecktes Buch einer Autorin, die in allen Zeiten in Deutschland gelesen werden muss.

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Rezension von Julia Schröder.

Transkript Verlag
978-3-8376-4838-6
288 Seiten
19,99 Euro

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