Für viele heute bekannte Autorinnen und Autoren war die legendäre Zeitschrift The New Yorker nicht nur ein Karriere-Sprungbrett, sondern auch eine literarische Spielwiese: Noch bevor sie Romane veröffentlichten, konnten sie sich dort an kurzen Formen probieren – Erzählungen, Reportagen oder Kolumnen. Eine, die dieses Schreiblabor weidlich genutzt hat, ist Jamaica Kincaid. Die aus der Karibik stammende Autorin lernte Mitte der 70er Jahre den Autor George Trow kennen, der für den New Yorker arbeitete. Er zog mit ihr durch die Stadt, bewunderte ihren Esprit und Witz und stellte sie schließlich dem Herausgeber William Shawn vor – der heuerte sie für die „Talk of the Town“-Kolumne an.
Eine der markantesten Stimmen der Zeitschrift New Yorker
Zwischen 1974 und 1983 wurde sie zu einer der markantesten Stimmen des New Yorker. Diese Anfänge Kincaids lassen sich nun in dem von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube übersetzten Band „Talk Stories“ nachlesen.
Was ihr damaliger Kollege Ian Frazier in seinem Vorwort über ihren Charakter schreibt, ließe sich auch über ihr Schreiben sagen:
Kincaid war jung, 1,80 m groß, die Haare hatte sie kurz geschoren und blond gefärbt, manchmal trug sie einen Pelzmantel und nichts drunter; manchmal besuchte sie eine Vernissage in ihrem Lieblingspyjama.
Religion und Sex waren verboten – der Rest war erlaubt
Dieses Selbstbewusstsein strahlen ihre Texte aus: Zwar mussten bestimmte Regeln eingehalten werden, schreibt Kincaid in ihrer Einleitung – weder Religion noch Sex durften in den Kolumnen auftauchen, und natürlich mussten die Texte sich mit New York beschäftigen. Aber die Vorgaben begrenzten sie in keinerlei Weise. Ob sie über Westindische Festivitäten schreibt, über angesagte Bands, extravagante Persönlichkeiten oder Partys – immer ist da dieser eigene, leichte, lässige Ton, der einen sofort in eine bestimmte Szenerie versetzt. Sie hat einen großartigen Sinn für Dialoge, und die Komik, die gerade bei seriösen Anlässen aufblitzt, entgeht ihr nie. Manchmal lässt sie deshalb einfach andere Menschen sprechen – und man weiß nicht, ob es die wirklich gibt oder ob es sich um erfundene oder autobiographische Geschichten handelt. Einer ihrer bekanntesten Texte heißt „Spesenabrechnung“ und listet einfach all die Kosten auf, die bei einem Pressefrühstück für Milton und Rose Friedman, den Nobelpreisträger für Wirtschaft und seine Frau, zusammenkommen:
Manchmal etwas zu Insiderhaft
Und so geht es zwei Seiten lang weiter – bis zur Gesamtrechnung von
40 002 018,34 Dollar. Nicht alle der mehr als 50 Texte haben den Lauf der Zeit unbeschadet überstanden, was auch daran liegt, dass einem nicht mehr unbedingt alle darin vorkommenden Namen heute noch vertraut sind. Manche Kolumnen haben bei aller beiläufigen Originalität etwas Insiderhaftes – Helene Hanffs „Briefe aus New York“, die durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zu Kincaids „Talk Stories“ aufweisen und zur gleichen Zeit entstanden sind, schneiden da zuweilen etwas besser ab, weil sie zugänglicher sind, obwohl auch sie sich mit dem New York der 70er beschäftigen. Wenn aber ein Text über ein Presse-Lunch mit Sylvester Stallone folgendermaßen endet, muss man Jamaica Kincaid einfach lieben:
Von solchen entwaffnenden, pointierten Sätzen finden sich viele. Sie weisen schon voraus auf die spätere Schriftstellerin, die lakonisch direkte Erzählerin, die kühle Beobachterin.