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Völlig verdient: Tijan Sila gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis

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Es wurde geweint und gelacht bei den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Der Kaiserslauterner Autor Tijan Sila gewinnt mit einem Text über die seelischen Verletzungen einer Familie nach dem Bosnien-Krieg. Für Heiterkeit sorgen die Essiggurken von Johanna Sebauer.

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Tijan Sila gewinnt verdient

Schon im Vorfeld, aber erst recht nach der eindringlichen Lesung und der folgenden Jury-Diskussion mit viel Lob gehörte Tijan Sila zum Favoritenkreis des Wettlesens am Wörthersee. Es war dann auch keine Überraschung mehr, dass Sila, völlig verdient, den Hauptpreis erhielt.

„Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ erzählt die Geschichte einer Familie, die auf unterschiedliche Weise irre an der Welt wird. Eltern und Kind haben die mörderische Belagerung Sarajewos erlebt, die vom 4. April 1992 bis zum 29. Februar 1996 gedauert hat.

Seelische Verletzungen nach dem Sarajewo-Krieg

Verwandte sind gestorben, Freunde schwer verletzt. Die mentalen Auswirkungen auf die Überlebenden zeigen sich Jahre später.

An einer Stelle heißt es: „das Nebeneinander von Wut und Wahn sollte ein wesentliches Merkmal der Krankheit meiner Mutter bleiben.“ Die Mutter wittert überall eine Verschwörung, und daran zerbricht auch der Vater, der sich zu einem Messi entwickelt.

Todesangst im Bombenschutzkeller

Er sammelt kaputte Elektrogeräte, weil er denkt: „Man kann alles reparieren.“ Doch die Beschädigungen der Seele werden nicht mehr heilen.

Auch der Ich-Erzähler des vermutlich autofiktionalen Textes erinnert sich an die Todesangst im Bombenschutzkeller und versucht seitdem nicht durchzudrehen. Er flüstert sich selbst ein psychostabilisierendes Mantra zu: „Bleib da! Bleib da!“

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Vom 26. bis zum 30. Juni fand in Klagenfurt das Wettlesen um den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmannpreis statt. SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte war vor Ort.

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Erleichterung nach dem Auftritt

Unmittelbar nach seinem Auftritt im Klagenfurter Fernsehstudio wirkte der Autor sichtlich erleichtert.

„Ich kam mit der Erwartung vor einer großen Prüfung“, sagt Tijan Sila. „Ich empfand die Diskussion hellsichtig, freundlich. Selbst für mich als derjenigen, der den Text geschrieben hat, war es interessant zu hören, wie sie den Text sehen.“

Wutbrief an die Mutter von Tamara Štajner

Während Sila in einer zwar nüchternen, aber eben auch skurrilen Tonlage erzählt, ist Tamara Štajners Geschichte „Luft nach unten“ ein emotionaler Grenzgang. Hier erinnert sich eine Tochter nicht nur an die beengten Familienverhältnisse und den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens.

Die Ich-Erzählerin schreibt einen Wutbrief an die Mutter, die zugleich auch eine schwer abgerungene Liebeserklärung ist. Jeden Sonntag musste das nackte Kind zum Wiegen ins Wohnzimmer.

Tränen während der Lesung

Da lag auch der Vater, der die qualvolle Prüfung nicht verhinderte. Die Mutter ereifert sich über die körperlichen Mängel der heiratsfähigen Tochter – eine kaum auszuhaltende Szene.

Gegen Ende des Vortrags weinte die Autorin und konnte kaum weiterlesen. Sie erhielt den mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis.

Faszination für den Lesewettbewerb

„Ich verfolge den Bachmannpreis seit 20 Jahren, und es hat mich immer fasziniert, wie das abläuft, sagt Štajner.

„Als ich nun hier gelesen habe, habe ich mir gewünscht, dass die Jury, wie sie es auch gemacht hat, die Themen, Leitmotive und Aspekte, die mir wichtig waren, auch demensprechend erkannt und diskutiert haben.“

Trauergeschichte im Baumarkt von Denis Pfabe

Auch die weiteren Auszeichnungen gehen im wahrsten Sinne des Wortes in Ordnung: „Die Möglichkeit einer Ordnung“ heißt nämlich eine konzis erzählte Trauergeschichte von Denis Pfabe, die in einem Baumarkt spielt.

Er durfte sich über den Deutschlandfunk-Preis und 12.500 Euro freuen. Weniger preiswürdig war streckenweise die Arbeit der Jury.

Die Juror*innen spielen ihre gewohnten Rollen

Oftmals erging sich die Debatte in Geschmacksurteilen. Neuzugang Laura de Weck blieb erstaunlich blass. Ansonsten spielten alle ihre bekannten Rollen.

Thomas Strässle gab sich zurückhaltend-wissenschaftlich, Mithu Sanyal gestikulierte wild mit ihren Armen und redete gerne über ihre Gefühle beim Lesen. Philipp Tingler beharrte auf Sprachanalyse und machte sich gerade deshalb wie in den Vorjahren unbeliebt.

Meinungsstarke Kommentare von Philipp Tingler

Dabei mag man sich die Jury-Runde ohne seine meinungsstarken Kommentare gar nicht mehr vorstellen. Es war schließlich ein Sieg der literarischen Vernunft, dass seine beiden Kandidaten, nämlich Sila und Pfabe, mit Preisen ausgezeichnet wurden.

Klaus Kastberger interpretierte seine neue Rolle des Vorsitzes, indem er sie weitgehend ignorierte und genauso launig-erratisch weitermachte wie bisher. Am besten vorbereitet waren Brigitte Schwens-Harrant und Mara Delius, deren Ausführungen oft gehaltvoller waren als die Texte.

So gut besucht war es selten

Wirklich unterhaltsam aber war ein satirischer und gekonnt eskalierender Text über die angeblichen Gefahren von Essiggurken. „Das Gurkerl“ von Johanna Sebauer erhielt nicht nur den 3sat-Preis sondern auch den Publikumspreis.

Ohnehin war der Zuspruch des Publikums in diesem Jahr besonders auffällig: So gut besucht, von Medien- und Verlagsleuten gleichermaßen, aber auch von jungen Literaturfans war der Bachmannwettbewerb selten.     

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