SWR2 lesenswert Kritik

Florian Werner – Die Zunge. Ein Portrait

Stand
Autor/in
Andrea Gnam

Florian Werner befreit mit seinem so fundierten wie genüsslich zu lesendem Buch die Zunge aus ihrem Schattendasein.

Die Zunge ist alles andere als eine Schönheit, mag sie auch noch so gewandt agieren und unabdingbar für eine gut verständliche Aussprache und für den Genuss beim Essen sein. Ihr Aussehen changiert zwischen „Krötenhaut und nass gewordenem Schmirgelpapier“, wie Florian Werner in seinem bemerkenswerten Buch über dieses ebenso wichtige, wie wenig beachtete Organ schreibt.

Die Zunge als körperliche Grenze zwischen Innen und Außen

Die Zunge markiert die körperliche Grenze zwischen unserem Inneren und der äußeren Umgebung, die Zungenspitze kann 10 Bewegungen pro Sekunde ausführen. So kann sie blitzschnell herausschnellen, als frech herausgestreckte Zunge das Gegenüber irritieren und binnen von Sekunden auch wieder eingezogen werden. Kinder provozieren sich gegenseitig auf diese Weise, bei Erwachsenen gilt die herausgestreckte Zunge als Zeichen der Unangepasstheit und zutiefst antiautoritäre Geste. Die Rolling Stones führen sie als Markenzeichen in ihrem Logo und Florian Werner nennt zudem gleich eine ganze Reihe jüngster Zungenattacken im Zeichen des Protests gegen die Zumutungen von Politik und Gesellschaft. Lange Zeit fristete die Zunge indes ein verfemtes Dasein im Verborgenen. Man stellte sie auf Bildnissen nicht dar, es sei denn sie gehörte einem Narren oder Betrunkenen. Sie gilt trotz ihrer bemerkenswerten Fähigkeiten und dem Genuss, den sie uns beim Schmecken und Schlecken, beim Küssen und Sprechen zu verschaffen weiß, als ekelhaft. Vielleicht liegt es daran, dass die Zunge zwar die Grenze zwischen Körper und Umgebung markiert, diese Grenze aber beim Schlecken und Kosten, wenn man Essen verspeist, nur eine Etappe auf dem Weg ins Körperinnere, zu den Verdauungsorganen darstellt: „Die Grenzen des wahrnehmenden Subjekts werden durchlässig, zugleich lösen sich aber auch die Grenzen des Objekts in Wohlgefallen auf“, schreibt Florian Werner und formuliert damit eine grundlegende Erkenntnis seines Buches, welche die Schwierigkeiten beim Nachdenken über die Zunge kennzeichnet.

Am Anfang war die Zunge

Lange Zeit wurde der Geschmack als Gegenstand philosophischer Überlegungen hintangestellt, denn das Schmecken ist eine sinnliche Erfahrung, die weder klar dem Geist noch der Realität unabhängig von der Wahrnehmung durch den Körper zugeordnet werden kann. Die Zunge verbindet uns mit dem Tierreich, andererseits aber setzt sie mit der Sprache auch einen wesentlichen Unterschied zum Tier, zumindest nach älterer Auffassung. Dennoch: Am Anfang war die Zunge, zumindest in der persönlichen Entwicklungsgeschichte jedes Menschen. Die ersten Saugbewegungen des Neugeborenen entstehen durch Unterdruck bei der Kontraktion der Muskeln im Mund, die Zunge spielt hierbei eine wichtige Rolle. Und schon der Fötus lutscht im Mutterleib am Daumen. Die Zunge ist also das erste Organ, mit dem man die Außenwelt erkunden kann und in der altisländischen Sagensammlung Edda, so der Literaturwissenschaftler Werner, beginnt die Geschichte der Menschheit mit einer leckenden Zunge. Sie gehört der Kuh Audhumbla, die Eisblöcke beleckt. Aus den beleckten Stellen bilden sich Haar, Haupt und schließlich ein vollständiger Mensch. Anders sieht es in der christlichen Religion aus, hier wird die Zunge dem Höllenschlund zugeordnet, der Teufel zeichnet sich wie die Schlange durch eine zwei-zipflige, gespaltene Zunge aus, Falschheit ist sein Metier, er spricht „doppelzüngig“. In einigen Sprachen bezeichnet das Wort für Zunge auch die gesprochene Sprache, zum Beispiel „lingua“ im Italienischen. Beim Pfingstwunder im Neuen Testament ist davon die Rede, dass die Apostel, als der Heilige Geist über sie kommt, in verschiedenen „Zungen“ sprechen und sich so mit unterschiedlichen Völkern verständigen können.

Ehrenrettung eines vernachlässigten Organs

Florian Werners Buch ist ein Buch zur Rettung, ja Ehrenrettung der Zunge: Es ist episodisch geschrieben, essayistisch im besten Sinne. Werner stellt anhand des kleinen Organs keine großangelegten Theorien zum Zustand unserer Gesellschaft auf. Stattdessen bietet er kulturwissenschaftlich fundiert, sein Thema hin- und herwendend, dem Leser sprachgewandt Einsicht in die lange Zeit übersehene Bedeutung der so viele Funktionen übernehmenden Zunge, die im Hintergrund agiert und doch über unser Innerstes mit der Außenwelt kommuniziert. Man kann es sich also, das naheliegende Wortspiel sei erlaubt, im wahrsten Sinn des Wortes auf der Zunge zergehen lassen.

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Autor/in
Andrea Gnam