Buchkritik

Ein intimer Balanceakt: Eric Bergkraut „Hundert Tage im Frühling“

Stand
Autor/in
Eberhard Falcke

Was darf ich schreiben? Das hat sich Eric Bergkraut gefragt, als er seine Aufzeichnungen über die letzten Tage der Schriftstellerin Ruth Schweikert begann, mit der er 20 Jahre lang verheiratet war. Er hat diese Gratwanderung überzeugend bewältigt. Sein Buch „Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds" ist ein starkes Stück biographischer Literatur.

Im März 2023 ereignete sich das, was Ruth Schweikert die „Explosion in ihrem Körper" nannte. Dabei handelte es sich um den erneuten Ausbruch ihrer Krebserkrankung, die sieben Jahre zuvor erstmals diagnostiziert wurde. Von da an verwandelte sich ihr Leben in ein Dasein zum Ende hin.

Nun übernahm es ihr Ehemann Eric Bergkraut den unaufhaltsamen Lauf der Dinge festzuhalten. Entstanden ist daraus ein Bericht über extreme Erfahrungen, wie sie auch viele andere machen müssen, über die aber nur wenige öffentlich Zeugnis ablegen. „Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds" hat der Filmer und Schriftsteller seine Chronik genannt.

Grenzerfahrung des Lebens und Schreibens

In einer Vorbemerkung beschreibt Bergkraut seine schwierige, oft herzzerreißende Aufgabe folgendermaßen:

Meine Aufzeichnungen handeln zunächst von Deinem Willen zum Leben, ich werde nicht einmal die Bezeichnung der Krankheit benutzen, die Dich getroffen hat. Die Aufrichtigkeit rufe ich auf als Begleiterin meiner Reise. Es kann nicht anders sein, als dass ich dabei an Grenzen gehe. Genau wie Du es getan hast.

So wie hier spricht der Autor seine Gefährtin oft direkt an, er schreibt nicht über sie, sondern gleichsam im Dialog mit ihr. Begründet ist das durch die emotionale Nähe, zugleich ist es aber auch ein Kunstmittel, das diesen Aufzeichnungen ihre lebendige, ergreifende Form verleiht.

Die Sinnfrage wird nicht gestellt

Wenn ein Mensch den Tod vor Augen hat, führt der Weg dorthin, entlang der Grenze zu jenen ungeheuren Räumen, die uns schaudern machen, um mit dem französischen Philosophen Blaise Pascal zu sprechen. Auf Deutungen jedoch, die ins Transzendente zielen, haben Schweikert und Bergkraut verzichtet.

Niemals habe ich erlebt, dass Du versucht hättest, Deiner Erkrankung eine Sinnhaftigkeit abzugewinnen. Oder Dich und andere zu fragen, weshalb sie Dich getroffen hat, warum in dieser Form. Sie war einfach da und es galt, daraus das Beste zu machen. Für Dich und für uns.

Ruth Schweikert war eine Schriftstellerin der harten Lebensprobleme, der unglücklichen Herkunft, der jugendlichen Nöte, der fortwährenden Konflikte zwischen Rückschlägen und Freiheitslust. Auf ein vergeleichbares Konfliktfeld des nervenaufreibenden Auf und Ab wurde sie durch die Krankheit gezwungen. Über das Werk seiner Gefährtin sagt Bergkraut:  

Was Du schreibst ist nicht Bekenntnis, es ist Literatur. Deine Erlebnisse flossen in Dein Werk, auch die schlimmen.

Ähnliches lässt sich über Bergkrauts Buch sagen. In der Konfrontation mit dem Tod verwandelte sich die Intimität der Paarbeziehung in einen schwierigen Balanceakt, von dem der Autor mit Offenheit und sicherem literarischem Feingefühl Zeugnis ablegt.

 Der lange Abschied - ein letztes Abenteuer

In dem SWR Kultur lesenswert Feature „Man stirbt ja nicht so zackbumm“ – Vom Schreiben über die Krankheit Krebs" hat Ruth Schweikert kurz vor ihrem Tod umrissen, welche Besonderheiten solch ein langer Abschied vom Leben mit sich bringt.

Sie sagte: „Das hat mir mal ein Schweizer Arzt gesagt: Weißt du, wenn es darum geht, Menschen in dieser manchmal langen Phase des Sterbens zu begleiten, da sind wir nicht sehr gut. Weil wenn jemand nicht als vollwertige Arbeitskraft zurückkehrt, ja, dann ist er oder sie eben nicht mehr so viel wert. Aber sie haben vielleicht Großkinder, sie tun vieles. Und auch ihre Erinnerungen sind durchaus etwas wert, weil sie eben ein bestimmtes Licht werfen auf eine bestimmte Zeit und Lebensgeschichte und so weiter."

SWR2 lesenswert Feature „Man stirbt ja nicht so zackbumm“ – Vom Schreiben über die Krankheit Krebs

„In dem Moment, als die Ärztin ‚bösartiger Tumor‘ sagte, wusste ich: ich will, ich muss, ich werde darüber schreiben“, erinnert sich die Schriftstellerin Ruth Schweikert. Denn das Schreiben sei ihre Möglichkeit, Ereignisse zu verstehen und auf sie zu reagieren.

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In diesem Sinn hat auch Bergkraut die letzten hundert Tage von Ruth Schweikert festgehalten. Einmal erwähnt er den Maler Ferdinand Hodler, der Krankheit und Sterben seiner Geliebten Valentine Godé-Darel mit Stift und Pinsel festhielt. Doch in Bergkrauts eigenen Aufzeichnungen bilden solche Porträtmomente die Ausnahme. Für ihn bleibt auch der letzte gemeinsame Weg ein Stück Lebensprozess, „Abschiednehmen ist unser letztes Abenteuer", heißt es einmal.

Dazu gehören alle Lebensfacetten, die Stimmungsschwankungen, die Augenblicke der Innigkeit, das Aufbäumen gegen den Tod, Gedanken, Hoffnungen, Ängste und auch die unvermeidlich aufwallenden Affekte. Und dazu gehört natürlich genauso der mühselige Alltag, die Krankenhausbesuche, die Pflegearbeit. Ereignisse, Reisen, Familiengeheimnisse werden in Erinnerung gerufen, die Szenen einer Ehe. Im Wechselbad von Realismus und Zuversicht wird sogar einmal eine „intensive neue Verliebtheit" verzeichnet. 

Verstehen, was uns widerfährt

Manchmal klappe ich auf dem Sofa sitzend den Laptop auf und notiere etwas, mein Gedächtnis lässt nach. Meine Notizen sind auch dazu da, besser zu verstehen, was Dir - und damit auch mir und uns - widerfährt.

Das Verstehen einer solchen Extremsituation ist das, was Bergkraut auch seiner Leserschaft ermöglicht. Und obwohl er völlig freimütig Einblick gewährt, wird niemand durch die Lektüre in eine voyeuristische Position gedrängt.

Mit dieser Geschichte eines Abschieds hat Eric Bergkraut ein leidenschaftliches, klarsichtiges Stück Literatur geschrieben. Es atmet den Geist von Liebe, Empathie und Vernunft. Und zugleich weitet sich dieser Abschied zu einem sehr lebendigen Porträt der Schriftstellerin und des Menschen Ruth Schweikert. Ein schöneres Epitaph lässt sich kaum denken.

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