Buch der Woche vom 25.3.2018

Silvia Bovenschen: Lug & Trug & Rat & Streben

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Eine Gruppe schrulliger Typen, die gemeinsam eine Villa bewohnt und die am Irrsinn der Gegenwart leidet: Die alte Alma, ihre erschöpfte Nichte Agnes, der kleine Max, der tobende Herr von Bärentrost. Die eingeschworene Gemeinschaft wird aufgestört, als der große Mr. Odino, der frühere Geliebte Almas, ins Dachgeschoss einzieht.

Das letzte Buch der Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen, die im Oktober 2017 mit 71 Jahren verstarb, ist Vermächtnis und zugleich ein schelmisches Anti-Vermächtnis: eine zügellose literarische Phantasie, bei der Wirklichkeit, Traum und Mythologie zu einem sehr eigenen, bizarren Kosmos verschmelzen.

„Die Lüge hat sich wahr gelogen“ – diese Sentenz des Philosophen Günther Anders hat Silvia Bovenschen ihrem letzten Buch vorangestellt. „Lug & Trug & Rat & Streben“ lautet der geheimnisvolle Titel des Romans. Kurz vor ihrem Tod im Oktober des letzten Jahres konnte die Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und Romanautorin Silvia Bovenschen das Manuskript beenden. Es ist zu ihrem Vermächtnis geworden, aber wie es sich für diese kluge, mit allen theoretischen Wassern gewaschene Autorin gehört, zu einem doch recht verspielten, anspielungsreichen, augenzwinkernden Vermächtnis: Sie jongliert mit Wahrheit und Dichtung und Charakteren, die unsere Nachbarn sein könnten und doch aus einer anderen Welt zu stammen scheinen.

Ein Abgrund funkelnder Geheimnisse

Silvia Bovenschen liebte als Autorin den doppelten Boden, um nicht zu sagen: die Abgründigkeit. Sie hatte eine Freude daran, ihre Leserinnen und Leser zu unterhalten, ohne sie unterfordern. Das Rätselhafte ist bei ihr nicht dunkel, sondern funkelnd. Das gilt auch für den neuen Roman, in dem sie Figuren auftreten lässt, die an der Gegenwart kein gutes Haar lassen und sich selber ein bisschen abhanden gekommen sind.

Agnes Lupinski steckt im Liebesschlamassel. Soll sie ihren derzeitigen Verehrer in die Wüste schicken oder heiraten? Ihre betagte Tante Alma, ein Stockwerk über ihr im Haus der skurrilen Familie lebend, scheint über solche Fragen erhaben: Sie erregt sich mehr über die vermaledeite Gegenwart, über den Kulturverfall und die Folgeerscheinung der digitalen Revolution, über den – Zitat – „Terrorverbund von Barbarei und Spitzentechnik“. Das unterscheidet sie kaum von ihrem einsiedlerischen Schwager von Bärentrost, der im Souterrain grummelnd seine Misanthropie auslebt. Besonders gerne doziert die verwitwete Alma in Gegenwart ihres kleinen Neffen Max, der die Kaskaden über die heutigen Erdenbewohner über sich ergehen lässt:

Neffe Max muss allerdings gar nicht von der unheilbringenden Hybris des Menschen überzeugt werden: Smartphone und Laptop lässt er ganz generationsuntypisch links liegen; lieber stöbert er in der vollgerümpelten Dachwohnung herum, wo er die eingemotteten Überbleibsel der analogen Welt erforscht wie ein Archäologe antike Grabstätten.

Dieses Forschungsfeld wird dem Kind allerdings streitig gemacht von einem alten Mann, der die heruntergekommene Wohnung mieten will, und das nicht ohne Grund: Der emeritierte Professor mit dem kinderbuchhaft klingenden Namen Mr. Odino hat eine Vergangenheit, und an die möchte er wieder anknüpfen. Vor langer Zeit hat er Alma den Hof gemacht; nun sucht er aus Nostalgie und wiederentflammter Liebe ihre Nähe. Die spröde Angebetete will zunächst nichts von ihm wissen, aber man kommt sich in diesem merkwürdigen Haus doch näher.

Einstweilen erkundet Mr. Odino zusammen mit Max die Dachgeschosswohnung, öffnet Kisten und Truhen und zieht daraus allerlei Schätze hervor.

Eingestreute Tierfabeln lehren Kulturpessimismus

Max ist nicht nur von der Vergangenheit fasziniert. Sondern auch vom Archaischen. Er möchte, wenn er einmal groß ist, ein Wolf sein. Vom Namen Lupinski zum Canis Lupus ist es nicht weit. Der domestizierte Wolf ist bekanntlich ein Hund. Er hat sich den zivilisatorischen Gegebenheiten angepasst und gehorcht brav den Regeln des Menschen. Der Wolf ist ungebändigt.

Silvia Bovenschen streut kursive Fabelpassagen in ihre Geschichte ein, die auf gewisse Weise die Lupinskische Familienaufstellung spiegeln: Nur warnen da zwei alte Wölfe einen jungen davor, sich mit den Menschen einzulassen. Die seien Monster, man müsse sich vor ihnen hüten. Kulturpessimismus ist eben immerzu und überall angebracht; Vorsicht erste Säugetierpflicht.

Ein langsamer Übergang vom Realismus zur Magie

„Lug & Trug & Rat & Streben“ wartet mit allerhand Klischees auf, mit Motiven aus der Trivialliteratur, aber Bovenschen versteht sich darauf, diese ironisch einzufrieren: Ihre Sprache ist von schöner Kühle und Schärfe, nicht scharfzüngig, aber klar. Das Unbehagen an der Gegenwart wird zugleich in übertriebener Manier ausgestellt wie humorvoll gebrochen. Einfache Lösungen gibt es nicht. Und schon gar keine Unschuld, in die man sich zurückziehen könnte – so ein Wolfs- ist eben doch immer auch ein Hundeleben.

Worauf diese Erzählung hinaus will, ist lange nicht recht deutlich. Bis im Mittelteil der vermeintliche Realismus gänzlich magisch wird. Da schickt Bovenschen ihre Alma, Max und den Odino – Göttervater Wotan lässt grüßen – nämlich auf einen Ausflug in das Dörfchen Mispelheim. Das gemahnt an Muspellsheim aus der nordischen Mythologie, ein feuriger, südlicher Gegenpol zum kalten Norden: Verlassene Häuser und tote Fenster erwarten sie dort, zwei alte Raben singen ein Duett aus einer Rossini-Oper, ein unsichtbares Orchester spielt dazu, dubiose Gestalten in einer Dorfkneipe liefern sich ein hitziges Redegefecht, in einer Villa am Wegesrand vermischen sich Sagen und Alpträume:

Genau das tut hier auch Silvia Bovenschen: Es ist ein hinreißendes, märchen- und gespensterhaftes Kapitel voller Verweise und Zitate. Ein Blick in die Zukunft oder in eine „misshandelte Vergangenheit“. Eine „Parodie auf unsere Ängste“ und „provinzielle Geisterbahn“. Silicon Valley trifft Neandertal.

Verführerische Mythen aus der kollektiven Erinnerung

Hier kommen wir Silvia Bovenschen zumindest ein bisschen auf die Schliche: Ihr Gespenstertanz ist ein Ausflug ins kollektiv Unbewusste, eine Enttarnung unserer Mythen: Die sind nämlich asbach-uralt, kommen aber immer wieder daher in anderem Gewand. Und immer fallen wir aufs Neue herein auf Versprechungen und Verlockungen. Der Mensch ist ein verführbares Wesen und landet gern mal in der Geisterbahn; man muss schon ein Kind sein, um mit unvoreingenommener Neugier auf die Welt zu blicken. Und selbst das ist nicht so einfach. Was uns vielleicht vor allzu viel Selbsttäuschung und Enttäuschung bewahren kann und zugleich Geschichte erfahrbar macht, das wird uns am Ende des Buches in einer Fantasie Almas vor Augen geführt.

Das Schriftgeisterschiff wird zumindest nicht absaufen, solange es durch unsere Träume gleitet, und diese Träume nicht nur mehr auf externen Festplatten abgespeichert sind, sondern irgendwo in uns verborgen bleiben. Eine Hoffnung trotz aller Hoffnungslosigkeit? Natürlich. Dem Grauen der Welt und der Unberechenbarkeit des eigenen Körpers hat Silvia Bovenschen immer etwas entgegengesetzt: das Denken und die Kunst. Ihr neues Buch ist ein Märchen mit vielen offenen Fährten, und es löst sich dem Leser keineswegs fraglos auf. Eine Ansammlung skurriler Figuren, mitten im Jetzt und doch aus der Zeit gefallen. Ein lustiges, trauriges Finale – ganz ohne Pathos und mit ironisch ausgestellter Untergangsstimmung. Ein schwindelndes und Schwindeln machendes Buch.

Gute Geschichten enden selten glücklich. Auch diese lässt uns zurück im Ungewissen. Aber doch mit der Gewissheit, dass man in den Büchern von Silvia Bovenschen etwas finden kann, das beim Lesen Glück verheißt.

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer