In der Eröffnungsszene ihres neuen Buchs sitzt Ines Geipel im Krankenhaus am Bett ihres Bruders Robby. Es ist Dezember 2017. Seine rechte Hand kann er noch bewegen, mehr nicht. Erst der Hirntumor, dann die Operation, kurz darauf der Schlaganfall. „Sieht nicht gerade rosig aus, meint er.“ Einen Monat später ist er tot.
Ines Geipel hat „Umkämpfte Zone“, wie sie selbst erklärt hat, unter anderem geschrieben, um sich ihren Bruder noch einmal anwesend zu machen. Aber wer diese Autorin und ihre Biografie kennt, der weiß, dass es bei ihr immer um mehr geht als um Persönliches, und dass sie dabei niemanden schont. Die ehemalige DDR-Spitzen-Leichtathletin hat in einem erbitterten Kampf ihre Ergebnisse aus allen Listen streichen lassen, nachdem sie erfahren hatte, dass sie ein Opfer des DDR-Zwangsdopingsystems geworden war. Und nun arbeitet sie sich am Beispiel ihrer eigenen Familie an den Lebenslügen und Selbstrechtfertigungen ab, die das DDR-Regime hervorgebracht hat. Geipels Vater war ein Stasi-Agent; ihre Kindheit und die ihres Bruders hat sie als blanken Terror empfunden.
Welche Rolle haben in diesen Konstellationen die Frauen gespielt? Welche generationenübergreifenden Auswirkungen hatten und haben die Entlastungsstrategien der Nachwendezeit? Und vor allem: Wie hängt der vielleicht gar nicht so neue Hass im Osten auf die Verhältnisse damit zusammen? Geipel setzt ihre eigene Biografie im Verhältnis zum Großen und Ganzen. Das ist angreifbar, mutig und erhellend.
Zur Autorin:
Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie.
2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch „Verlorene Spiele“ (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.
Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert.
Der Bruder - das ist der, der sich für Dich in die Bresche wirft, der Dich beschützt und fördert. Aber: Der Bruder, ist auch derjenige, der sich selbst immer das größte Stück Kuchen schnappt, der seine Kräfte an Dir ausprobiert und der Dich verpetzt. Brüder sind also widersprüchliche Gesellen - wie schon der Blick auf die USA zeigt, denn war Amerika nicht jahrzehntelang der mächtige Beschützer Europas - der sich nun vom guten Bruder zum fiesen Bruder wandelt? Und auch in den USA selbst scheint gerade eine Clique von Männerfreunden ihre Interessen durchzusetzen, die manche als "Broligarchie" bezeichnen - als Herrschaft der Kumpel. Als Männer-Seilschaft mit Schulterklopfen und großer Klappe.
Wobei: sprach nicht schon Schiller davon, dass alle Menschen - also auch alle Schwestern - Brüder werden? Auf sprachlicher Ebene jedenfalls erscheint der Bruder gegenwärtig nicht nur ein Mann zu sein - wie die Autorin Teresa Präauer festgestellt hat, bezeichnen sich auch junge Frauen gegenseitig als Brudi, Bruda oder Bro. Vielleicht müsste man Schiller also aktualisieren und sagen: Alle Menschen werden Kumpel. Vor allem, wenn sie - vor 25 Jahren - gemeinsam im Big Brother Container saßen und TV-Deutschland entdeckte, wie faszinierend der langweilige Alltag der anderen im Reality Fernsehen doch ist. Andererseits ist die Brüderlichkeit unter Menschen - neben Freiheit und Gleichheit - der Goldstandard der Demokratie, der, wie man im Nachbarland Frankreich sieht, zwar überall präsent ist, doch selten eingelöst wird. Und was ist eigentlich mit den Brüder-Küken? Erstreckt sich das menschliche Konzept der Brüderlichkeit auch auf flauschige Baby-Hähne, die nur einen geringen wirtschaftlichen Wert haben?
Die Matinee in SWR Kultur - heute geht es um Brüder.
Gesprächspartner der Sendung sind die Autorin Teresa Präauer, die Fernsehkritikerin Klaudia Wick und der Journalist Nils Minkmar.
Redaktion: Daniel Stender Musikredaktion: Moritz Chelius