„Schreib nicht so viele Seiten“, warnt die Tochter Suki ihren Autorenvater in Davos, „sonst quälst du vielleicht eines Tages noch die Schüler.“ Ein Verweis auf den ultralangen „Zauberberg“ von Thomas Mann, dem „Papsi“ hier hinterherforscht. Der weiß die Ängste seiner Tochter allerdings zu beruhigen: „So viel fällt mir dazu gar nicht ein.“
Viel Lärm um wenig Text
Rein quantitativ scheint das schon mal zu stimmen. Knapp 250 ausgesprochen großzügig bedruckte Seiten ist diese Mischung aus Autofiktion und Sachbuch lang. Das Titelversprechen, die „ganze Geschichte“ rund um den (etwa viermal so langen) Zauberberg erzählen zu wollen, mutet da, je nach Lesart, entweder großmäulig oder ironisch an. Und ebenso der Blurb, den Maxim Biller auf dem Buchrücken hinterlassen hat: Wenn jemand das „Denkmal Thomas Mann“ stürzen könne, dann Norman Ohler.
Um es gleich vorwegzunehmen: Weder das eine noch das andere wird sich in der Lektüre irgendwie einlösen. Und so regt sich der Verdacht: wahrscheinlich ein Marketing-Gag. 250 Seiten sehen eben vielversprechender aus, als 150 (und teurer sind sie auch).
Und wen das noch nicht abholt zum „Zauberberg“-Jubiläum, der lässt sich vielleicht vom Biller‘schen Brammeln auf dem Buchrücken überzeugen. Anders gesagt: Der Verlag tut alles, um aus einem dreitägigen Kurztrip ordentlich Kapital zu schlagen.
Forum Zauberbergzeit – Ist Thomas Manns Jahrhundertroman visionär?
Michael Köhler diskutiert mit
Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Borchmeyer, Germanist, München/Heidelberg
Dr. Caren Heuer, Direktorin Buddenbrookhaus, Lübeck
Prof. Dr. Frido Mann, Theologe, Psychologe, Autor, München
Schreiben, aber aus steuerlichen Gründen
Der bildet nämlich die Rahmenerzählung von „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“. Der Autor fährt mit seiner vierzehnjährigen Tochter und ein paar Freunden auf Skiurlaub ins schweizerische Davos. Also an eben den Ort, an dem Thomas Mann seinen Zauberberg spielen lässt. Verzaubert vom Genius Loci vergisst er das Skifahren allerdings sofort und recherchiert stattdessen die Geschichte von Ort und Romanentstehung.
Gut, dazu kommt, dass Davos recht teuer ist und der Autor deshalb nach einer Möglichkeit sucht, das Ganze von der Steuer abzusetzen. „Selbst einen Skiurlaub steuerlich geltend zu machen musste prinzipiell möglich sein, wenn ich nämlich ein Buch schrieb über einen Skiurlaub.“ Haha, funny.
Wie Davos zum „Mekka der Schwindsucht“ wurde
Entlohnt wird man für dieses zähe erzählerische Vorspiel allerdings mit einer ziemlich kurzweiligen Geschichte dieses einstigen Kurorts, dessen rasanter Aufstieg von einem ärmlichen Bergdorf zur Hauptstadt des europäischen Gesundheitstourismus („Boomtown in den Alpen“) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich dem Erfolg einer so erfundenen wie wirkmächtigen Erzählung verdankte: Hier besiegt ihr die Tuberkulose – damals die Seuche schlechthin in Europa.
Trotz oder gerade weil jeder Beleg dafür fehlte, setzte sich die Idee durch, dass Sonne, Höhenklima und die besonders vitaminreiche Schweizer Bergmilch ideal wären, um die tödliche Lungenkrankheit zu heilen. Nicht zu vergessen der „edle Veltlinerwein“, der literweise dosiert wurde. Als Therapeutikum freilich ...
Die Sanatorien wuchsen aus dem Boden, die Preise stiegen mit dem Ansturm der zahlungskräftigen Kundschaft. Selbst die vielen Davoser Toten (etwa ein Viertel der Gäste) konnten der Anziehungskraft dieses (vermeintlich) „heilsamen Hedonismus“ nichts anhaben. Und auch Robert Kochs Entdeckung des krankmachenden Bakteriums im Jahr 1882 führte nur langsam zu Verhaltensänderungen im Kurbetrieb.
Der „Zauberberg“ bringt die Blase zum Platzen
Kurz gesagt: Die Geschichte von Davos ist bis in die die Zwanziger des 20. Jahrhunderts hinein eine Erfolgsgeschichte des Gesundheitsmarketings. Wer krank war, wurde nicht gesund – wer gesund war, wurde für krank erklärt. Hauptsache die Gäste blieben und zahlten. Und das taten sie auch – bis ausgerechnet der „Zauberberg“, diese literarische Reportage aus dem Sanatoriumslebens, die Blase zum Platzen brachte. Fiktion gegen Fiktion sozusagen.
„Vor allem die lokale Ärzteschaft fühlte sich auf den Kittel getreten“, schreibt Ohler. „Der Roman wurde als Heimsuchung empfunden, beleuchtete er doch ihre selbstpostulierte Allmacht, prangerte ihr Herrschen über Leben und Tod an und entlarvte das Narrativ des ‚Mekkas der Schwindsüchtigen‘ als eine geldgesteuerte, fragwürdige Fiktion.“
Erst die Philosophen, dann die Superreichen
Zusammen mit der Weltwirtschaftskrise und dem damit verbunden Ausbleiben des zahlungskräftigen Publikums führte Manns „Enthüllungsbuch“ dazu, dass man in Davos auf andere Formen des Selbstmarketings umstellen musste. Der inszenierte Philosophen-Zweikampf zwischen Heidegger und Cassirer im Jahr 1929 stellt für Ohler einen genau solchen Versuch da.
Aus dem Mekka der Schwindsüchtigen sollte ein Mekka der Wissenschaft werden. Und als das nicht aufging, erklärte man es kurzerhand zu einem Mekka der Wirtschaft. Mittlerweile versammeln sich in Davos einmal im Jahr die reichsten Menschen der Welt zum World Economic Forum mit dem hehren Ziel, den Zustand der Welt zu verbessern. Die ganz große Nummer – wie immer in diesem Bergdorf.
Was will dieser Text?
Ohlers Rede von der „Fiktionsmetropole Davos“ ist da außerordentlich treffend – und hätte einen fantastischen roten Faden für seine Erzählung abgegeben. Nur folgt er ihm nicht.
Während seine Geschichte des Kurorts wahnsinnig plastisch und pointiert erzählt ist, bleibt sein Blick auf das Weltwirtschaftsforum fad. Lieber wird wuchtig geleitartikelt: Es handle sich dabei um die „größte Lobbyaktion der Erde, (…) bei der die ultimativen Gewinner hinter verschlossenen Türen die Regeln für ihr weiteres Wohlbefinden vereinbaren.“ Das mag richtig sein oder nicht – viel kapiert hat man dadurch jedenfalls nicht.
Hörspiel Timon Karl Kaleyta: Heilung
Hörspielgroteske über einen Helden auf der Suche nach seiner Männlichkeit, die ihn von einer Gruselklinik zu einem Selbstversorgerbauernhof treibt.
Online steht ein binaurale Mischung für Kopfhörer in 3D-Sound zur Verfügung.
Und hier wird ein Grundproblem dieses Buches sichtbar. Es kann sich chronisch nicht entscheiden, was es eigentlich ist. Zeitkritik, Kultur- und Literaturgeschichte oder persönlicher Essay? Am liebsten wahrscheinlich alles. Aber zu dem Preis, dass manches ziemlich plump daherkommt. Vor allem in der Rahmenerzählung.
Da wären etwa die Pathosanfälle, die der Autor aka „Papsi“ angesichts der Weltlage (viel konkreter wird’s nicht) erleidet: „Die Gen Z ist gefragt“, kommt es ihm düster am Fuße eines Skilifts. „Antworten müssen gefunden werden, sonst ist der Untergang tatsächlich nah.“ Aha.
Ist das am Ende alles Meta?
Wäre man maximal wohlwollend, könnte man dem Text unterstellen, er lege hier eine Art performativen Turn hin. Er schlachtet die Fiktionsmetropole Davos ein weiteres Mal aus – diesmal für ein Stückchen raunender Kulturkritik, die so nebulös ist, wie die Heilungsversprechen der Sanatoriumsärzte. Man kann aber auch ein viel pragmatischeres Fazit ziehen: Nicht alles, was sich steuerlich absetzen lässt, ist auch ein guter Text.