Biennale 2024 unter dem Motto „Fremde überall“
„Stranieri ovunque“ („Fremde überall“) ist das Motto der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig. Die älteste Kunstschau der Welt feiert ihr 60. Jubiläum. Der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa möchte damit das Konzept der Marginalisierung in jeglicher Form thematisieren: egal, ob aufgrund sozialer oder ethnischer Herkunft, sexueller Identität oder persönlichen Scheiterns, so Pedrosa.
Das Motto stammt aus einer Reihe von Werken, die das Pariser Kollektiv Claire Fontaine seit 2004 geschaffen hat: Neon-Skulpturen in verschiedenen Farben, die in mehreren Sprachen den Spruch „Stranieri ovunque" zeigen. Dieser bezieht sich wiederum auf den Namen eines Kollektivs aus Turin, das sich Anfang der 2000er-Jahre gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Italien eingesetzt hatte.
Sind nationale Beiträge überhaupt noch zeitgemäß?
Bei einer internationalen Kunstschau wie der Biennale stellt sich die Frage, ob das ihr zugrunde liegende Konzept der nationalen Beiträge im Jahr 2024 wirklich noch zeitgemäß ist. Çağla Ilk, Ko-Direktorin der Kunsthalle Baden-Baden und Kuratorin des diesjährigen deutschen Pavillons in Venedig, meint im Interview mit SWR Kultur: „Wir müssen die Grenzen der Nationalitäten überwinden, weil wir auf einen katastrophischen Zustand der Welt zugehen“.
Deutscher Pavillon: Über das territoriale Denken hinaus
Der deutsche Pavillon zeigt in den Giardini der Biennale den Beitrag „Thresholds“ („Schwellen“). Er sucht in drei Szenarien den Umgang mit Schwellen, Stufen und Grenzen und möchte so territoriales Denken gleichzeitg sichtbar machen und hinterfragen.
Dafür hat die in Berlin lebende israelische Multimedia-Künstlerin Yael Bartana installative Videoanimationen und Skulpturen entworfen. In verschiedenen Räumen hat sie eine postapokalyptische Science-Fiction-Arbeit kreiert. Das Kunstwerk beschäftigt sich mit Utopie und Dystopie, Aufbruch und Flucht.
Ersan Mondtag und die Geschichte seines Großvaters als Gastarbeiter
Gemeinsam mit Bartana hat Ersan Mondtag eine performative Installation realisiert. Der Regisseur erzählt darin die Geschichte seines Großvaters, eines Gastarbeiters aus der Türkei. Seine Arbeit beleuchtet die Aspekte der Migration und des kollektiven Gedächtnisses.
Andere Kunstwerke sind auf der Insel Certosa ausgestellt: „Das Überschreiten von territorialen Konzepten, von Mauern und Materialität, von Innen und Außen spiegelt sich auch in den vier Beiträgen auf der Insel wider“, erklärt Theresa Brüheim, Pressesprecherin des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen (IfA), das für das Gesamtprojekt bei der Biennale kommissarisch verantwortlich ist.
Internationalität ist immer ein Merkmal der Biennale in Venedig gewesen und dieses Jahr ganz besonders: 331 Künstler*innen und Kollektive stellen in Venedig aus. Dadurch sind 88 Länder in der Lagunenstadt vertreten. Mehr als zuvor liegt der Fokus der diesjährigen Schau auf Künstler*innen, deren Kunst Erfahrungen als Ausländer*innen, Immigrant*innen, Menschen in der Diaspora, Exilant*innen oder Geflüchtete verarbeitet.
Blick auf biografische Geschichten
Dieses Jahr lenke der deutsche Beitrag den Blick auf jene biografischen Geschichten und andere kollektive Entwürfe, die in der national geprägten deutschen Geschichtsschreibung keinen oder nur wenig Raum finden, erläutert IfA-Sprecherin Brüheim auf Anfrage des SWR.
Der Beitrag des deutschen Pavillons mache sich explizit einen postmigrantischen Blick zu eigen und öffne die Geschichtsschreibung für marginalisierte Erzählungen, so das IfA.
Also kann die Aufteilung der Pavillons nach Nationen auch als Chance begriffen werden, anderen – verborgenen – Geschichten eines Landes Raum zu geben. „Durch prozesshafte und länderübergreifende Formate", so das IfA, „sollen so auch eurozentrische Perspektiven hinterfragt werden“.
Auch Kuratorin Çağla Ilk war es wichtig „ohne unsere Nationzugehörigkeiten etwas Neues zu schaffen". Sie glaube nicht an Grenzen in der Zukunft, sagt sie im Gespräch mit SWR Kultur. Denn nur an Orten des freien Denkens, wo Menschen miteinander in Berührung kommen, meint Ilk, „nur dort gibt es Hoffnung".