Es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste aller großen Filmvampire wieder aus seiner Gruft herausgeholt wird. „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von F. W. Murnau erschien vor mehr als hundert Jahren.
Es wundert nicht, dass der amerikanische Regisseur Robert Eggers den Film nun unter dem Titel „Nosferatu – Der Untote“ neu adaptiert hat. Eggers gilt als Auteur für den modernen Horror, der ästhetisch vom deutschen Expressionismus inspiriert ist.
Gerade weil Murnaus „Nosferatu“ so maßgebend für das neue Medium Film und insbesondere für das Genre Horror war, ist es erstaunlich, dass gerade dieser spezielle Vampir – Nosferatu bzw. Graf Orlok – in den vergangenen hundert Jahre so selten filmisch dargestellt wurde.
Filmkritik von Rüdiger Suchsland: „Nosferatu – Der Untote“
Graf Orloks der Filmgeschichte
Denn Vampire in all ihren Varianten sind die am häufigsten dargestellten Figuren der Filmgeschichte. Nennenswerte Nosferatu-Filme gab es aber nach 1922 bislang nur einen: 1979 drehte Werner Herzog unter dem Titel „Nosferatu – Phantom der Nacht“ mit Klaus Kinski in der Hauptrolle eine Neuverfilmung.
Ende der 1980er-Jahre folgte eine Art Sequel (ebenfalls mit Kinski), und Mitte der 1990er-Jahre ein Erotikstreifen. 2023 zeigte der norwegische Regisseur André Øvredal Nosferatu als Fledermaus-Monster auf der Horrorfahrt des Schiffs Demeter und im selben Jahr erschien die vergessenswerte Version von David Lee Fisher.
Bram Stokers Witwe verweigert die Filmrechte
Ein Kassenschlager war Murnaus „Nosferatu“ bei Erscheinen nicht. Dass der Regisseur und sein Drehbuchautor Henrik Galeen sich an Bram Stokers Roman „Dracula“ bedienten, ohne die Rechte mit Stokers Witwe einzuholen, tat sein Übriges für die Produktionsfirma. Sie ging nach den Klagen sofort pleite.
Dass der Film heute noch überliefert ist, war vielmehr Glück: Die Filmrollen mussten verbrannt werden, aber einige wenige waren schon ins Ausland verschickt worden.
Murnau, Galeen und Albin Grau, Produzent und Maskenbildner, hatten dabei einige Änderungen zur Roman-Vorlage vorgenommen. In ihren Grundzügen blieb Stokers Geschichte gleich: Der aufstrebende Anwalt Jonathan Harker gerät in die Fänge des blutsaugenden Grafen Dracula. Er bringt das lebende Böse aus den Karpaten in die Stadt und damit seine Angetraute Mina in Gefahr.
Rattenkönig im Biedermeier
Für den Film wurden Namen aber geändert: Aus Harker wurde Thomas Hutter, Mina wurde zu Ellen und Dracula schließlich zu Orlok. Auch verlegten sie die Geschichte vom Fin de Siècle vor in den Biedermeier, ins Jahr 1838 (bei der Premiere sollte das Publikum sich entsprechend kleiden) und örtlich von der Weltstadt London in das fiktive Städtchen Wisborg, inspiriert von der Hansestadt Wismar, in der auch einige Außenaufnahmen gedreht wurden.
Im Film wird der Graf zu einem Rattenkönig, der die Pest einschleppt. Daher auch der Filmtitel: Das Wort „Nosferatu“ stammt, so die geläufigste Annahme, aus dem Griechischen und soll „Der Krankheit bringende“ bedeuten.
Während im Original der Wissenschaftler van Helsing weiß, dass man Vampire köpfen und ihnen einen Pflock ins Herz rammen muss, um sie zu töten, zerfällt der Murnausche Film-Vampir im Sonnenlicht des frühen Morgens, nachdem sich Ellen für seinen Blutrausch geopfert hat – eine Allegorie, die im Vampirismus der Folgezeit aufgenommen wird.
Musik im Stummfilm – Von Nosferatu zum Panzerkreuzer
Ein Graf wie ein Tier
Auch wenn Jonathan Harker den Grafen Dracula im Roman des Nachts „auf seine Eidechsenart“ an der Schlosswand hinunterkraxeln sieht, so ist Graf Orlok im Film ein archaisches Wesen anderer Art, eindringlich gespielt von Max Schreck.
Mit kahlem Kopf, tiefen Augenringen, spitzen Ohren, blasser Haut, langen Nägeln und spitzen Schneidezähnen (statt Eckzähnen) wirkt er wie eine anthropomorphische Chimäre aus Nagetier und Insekt.
Hält man sich vor Augen, dass der eigentliche erste Vampir der Filmgeschichte 1913 ein „Vamp“ war, also eine Verführerin, in einem Film von Robert G. Vignola, der lange als verschollen galt – so ist Nosferatu das Gegenstück: Dieser Vampir hat eigentlich keine Attribute, die ihn anziehend machen.
Dandy-Vampire in Ton und Farbe
Nosferatu ist damit ein Wesen, dessen Faszination von seiner Reduktion ausgeht: Romandialoge sind auf wenige Stummfilmsätze verdichtet, die Kontraste sind erhöht, man kann ihn nicht psychologisieren, sondern muss ihn mit dem Blick begreifen.
Der Vampir Nosferatu wurde damit explizit für den Stummfilm geformt, während die späteren wortgewandten Dandy-Draculas auch in anderen Medien wandeln können. Mit Ton und Farbe waren sie es aber, die in verführerischer Vielzahl über die Leinwände schritten:
1931 in „Dracula“ mit Bela Lugosi, der sich am Klang der „Kinder der Nacht“ erfreut; in den 1950er-Jahren brillierte Christopher Lee in der Hammer-Filmreihe als hypnotischer Gentleman. 1992 spielte Gary Oldman den Grafen in Francis Ford Coppolas „Bram Stokers: Dracula“ als melancholischer Dandy.
Allein letzterer ist nah an der Dracula-Version des Buches dran – dass er eine Version derselben Romanfigur wie Nosferatu ist, zeugt davon, wie weit die Ausdeutungen des Vampirs auseinanderklaffen können.
Menetekel der Unsterblichkeit
Es war aber das Ursprüngliche in Murnaus erster Dracula-Version, die Robert Eggers auch für seine neue Adaption faszinierte. Hier werde Stokers komplex erzählte Romanvorlage „zu einem einfachen Märchen verdichtet“, sagte der Regisseur in einem Interview.
Nosferatu ist Urvampir und Urangst – sowie Menetekel dessen, was passiert, sollte der Mensch sich doch nach Unsterblichkeit sehnen.
Schlimmer als der Tod: Abwesenheit von Liebe
Die Frage nach dem Preis der Unsterblichkeit widmete sich Regisseur Werner Herzog dabei in seiner Version von 1979. In diesem Jahr war das Urheberrecht für „Dracula“ ausgelaufen. Herzog nannte einige Charaktere für „Nosferatu – Phantom der Nacht“ wieder um – doch Murnaus Änderungen behielt er bei.
Klaus Kinski spielt Orlok zwar auch mit tierischen Attributen. Aber hier wird er zum ewig Lebenden und damit zu einer todtraurigen Figur. In ihrem Weltschmerz übt sie eine merkwürdige Anziehung auf die Zuschauer aus, wie auch eine konkrete auf Lucy Harker (gespielt von Isabelle Adjani).
Es ist ein poetisch-schöner Dialog zwischen der jungen Frau und dem jahrhundertealten Wesen: „Zeit. Das ist ein Abgrund, tausend Nächte tief“, spricht Kinski als Orlok zu ihr. „Können Sie sich vorstellen, dass man Jahrhunderte überdauert und jeden Tag dieselben Nichtigkeiten miterlebt?“ Es gebe Schlimmeres als den Tod: Die Abwesenheit von Liebe sei der schlimmste Schmerz, die Erlösung komme allein von uns selbst. Lucy wird sich ihm lustvoll hingeben, bis er vom Morgengrauen überrascht im Licht erlöst wird.
Es sei ein „schreckliches, verführerisches Mitleid“, das dieser Graf Orlok in einem auslöst, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert damals zum Film.
Ein Wesen aus Schatten und Licht
Doch Nosferatu ist nicht nur Urangst und Tragik, sondern auch Symbol der Umbruchszeit zur Moderne. Im 19. Jahrhundert reagierten Literaten wie Lord Byron, Mary Shelley, Edgar Allan Poe und Charles Dickens mit Schauerromanen, Geistergeschichten, Horror- und Kriminalerzählungen auf die großen Umbrüche der Zeit. Der Vampir wurde eine literarische Figur und gesellschaftliche Metapher, durch die von Kapitalismus, Klassenverhältnissen, Migration und Epidemien erzählt wurden.
Stokers Dracula (mehr namentlich, denn historisch vom walachischen Fürsten Vlad III. Drăculea inspiriert) bewegte sich dabei zwischen Wissenschaft und Aberglaube, zwischen den Jahrhunderten, und zwischen den Medien – der Roman ist ein Amalgam aus Tagebucheinträgen, Briefen, Logbuch und Zeitungsartikeln.
Der Roman bot mit seinem Vampir eine ideale Figur für das neue, unheimliche Medium, das sich ebenso zwischen Schatten und Licht bewegt: den Film.
Eine Kamera, die Leben nimmt?
Der Film „Shadow of the Vampire“ von E. Elias Merhige aus dem Jahr 2000 ist eine metafiktionale Auseinandersetzung mit dieser Bedeutung Nosferatus.
Willem Dafoe, der auch für Eggers wieder vor der Kamera steht, spielt hier Max Schreck – den Schauspieler, der Nosferatu 1922 verkörperte. Man erzählte sich gern, dass Schreck seine Rolle so überzeugend spielte, dass seine Zeitgenossen ihn mitunter tatsächlich für einen Vampir hielten.
Der Film nimmt sich dies zur Prämisse: Wie echt ist das Leben auf der Leinwand? Murnau, gespielt von John Malkovich, gibt dazu in einer zentralen Szene einen Monolog zum Besten: Das bewegte Bild sei größer als alle anderen Künste, denn im Film vereinten sich Gemälde, Poesie, Musik und das menschliche Gesicht:
Catherine McCormack, die die Ellen-Darstellerin Greta Schröder spielt, verteidigt an anderer Stelle das Theater. Sie wolle nicht unsterblich sein durch einen Film: „Das Publikum gibt mir Leben, während dieses Ding (die Kamera) es mir wegnimmt“.
Nosferatu und der Film verfügen über dieselbe Macht wie vor hundert Jahren: Im Abbild machen sie unsterblich – ewiges Leben, aber kein echtes.