Stummfilm – allem technischen Fortschritt zum Trotz
Es ist der 6. Februar 1931. Charlie Chaplin präsentiert dem New Yorker Publikum seinen neuesten Film „Lichter der Großstadt“ (englisch: „City Lights“) – endlich! Drei Jahre hat Chaplin an diesem Film gearbeitet. Zeitweise stand das Projekt sogar ganz auf der Kippe.
Der perfektionistische Regisseur und Hauptdarsteller brütet teilweise wochenlang über dem Drehbuch und sucht nach glaubwürdigen Lösungen für die eigentlich banale Geschichte über einen armen Schlucker, der sich in ein blindes Blumenmädchen verliebt, das ihn wiederum für einen reichen Mann hält. Während Chaplin am Skript feilt, wartet die Filmcrew im Studio und wird von Chaplin, der den Film aus eigener Tasche finanziert, fürs Nichtstun bezahlt.
Zur Premiere ist der Film bereits technisch überholt. 1927 wurde mit „Der Jazzsänger“ der erste Ton-Spielfilm veröffentlicht und seither geht es in Hollywood für den Stummfilm bergab. Viele Schauspieler*innen der Stummfilmära schaffen den Sprung zum neuen Medium nicht: Pola Negri, Emil Jannings oder Gloria Swanson, die 1950 nochmal in Billy Wilders „Boulevard der Dämmerung“ als in der Bedeutungslosigkeit verschwundene Stummfilmdiva Norma Desmond eine übersteigerte Version ihrer selbst spielen wird.
SWR2 Zeitwort zur New Yorker Premiere von „Lichter der Großstadt“
Die Vorteile des Tonfilms nutzen ohne Tonfilm zu machen
Aller Zeichen zum Trotz entscheidet sich Chaplin dafür, „Lichter der Großstadt“ in der Art eines Stummfilm zu drehen. Zu groß ist die Furcht, dass die körperliche Komik seiner Figur unter dem Tonfilm leiden würde. Doch streng genommen wäre es nicht richtig, diesen Film als Stummfilm zu bezeichnen.
Chaplin macht sich die weiterentwickelte Technik durchaus zunutze. Bereits für seine vorherigen Filme gab er minutiös vor, welche Musik von den Musiker*innen der Stummfilmkinos gespielt werden müssen. Durch die Tonspur, mit der der Film nun in die Kinos kommt, ist Chaplin selbst Herr über die musikalische Gestalt seines Werks.
Szene aus „Lichter der Großstadt“: Der Tramp lernt die Blumenverkäuferin kennen
Chaplin komponiert selbst das musikalische Leitmotiv. Mit Saxofonen vertont er die Enthüllungsreden für ein neues Denkmal zu Beginn des Films und nutzt Tonelemente für Komikeffekte, etwa wenn seine Figur in einer Feierszene eine Trillerpfeife verschluckt und daraufhin mit Schluckauf kämpft.
Chaplins Tramp funktioniert auch nach über 90 Jahre
Melone, Bürstenbärtchen, viel zu kleine Weste und sackige Hosen: Mit dem namenlosen Tramp kreiert Charlie Chaplin eine der bis heute denkwürdigsten Figuren der Filmgeschichte. Im kollektiven Gedächtnis sind Künstler und Kunstfigur längst miteinander verschmolzen.
Erstmals spielt Chaplin seine Paraderolle 1914. Über das Aussehen seiner Figur sagte er später in einem Interview:
Tatsächlich ist es neben der ungemeinen Körperlichkeit der Darbietung und der immer noch bewundernswerten Präzision des komödiantischen Timings vor allem das Sehnsuchtsvoll-Romantische in Chaplins Spiel, das Zuschauer*innen bis heute am Tramp begeistert.
Ob in „Goldrausch“, „Der Vagabund und das Kind“ oder eben „Lichter der Großstadt“: Vielleicht lacht man am Anfang über den Tramp, aber dann lacht mit ihm. Das Publikum wird zum Komplizen seiner Scherze und wird Teil seines emotionalen Wegs, so auch bei der Liebesgeschichte mit der schönen Blumenverkäuferin.
Chaplins flammende Rede in „Der große Diktator“ (1940)
Die Rolle spielt Chaplin in rund 60 Filmen und Kurzfilmen, offiziell zuletzt 1936 in „Moderne Zeiten“. Noch ein allerletztes Mal kommt der Tramp aus der Versenkung im Kriegsjahr 1940: als jüdischen Frisör, der in „Der große Diktator“ unfreiwillig zum Doppelgänger des Diktators wird. Der Film endet mit einem flammenden Appell für Menschlichkeit und Freiheit. Zu guter Letzt hat der Tramp seine Stimme gefunden.