Wo bleibt der Aufschrei?

Kinder als Karriere-Ende: Wenn Künstlerinnen ihre Mutterschaft verschweigen

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Autor/in
Lydia Huckebrink
Lydia Huckebrink, Autorin SWR Kultur

Chancengleichheit für Künstlerinnen und Künstler erreicht die Bühnenwelt nicht, solange es keine familienfreundlichen Arbeitsbedingungen gibt. Denn wenn eine Musikerin oder Sängerin ein Kind bekommt, bedeutet das oft ihr Karriere-Aus. Der Verein Bühnenmütter sagt, was sich an den Theatern ändern muss.

Zoonar | Svyatoslav Lypynskyy
Zwischen den Stühlen: Musikerinnen wollen sich nicht mehr zwischen Karriere und Familie entscheiden müssen.

Proben am Abend, Auftritte im Ausland

Die Probleme fangen schon bei den Arbeitszeiten an: Proben und Konzerte finden abends statt, oft am Wochenende. Die Kita ist dann aber zu.

Manchmal kommen Reisen hinzu, Auftritte und Übernachtungen in anderen Städten. Kommt das Kind mit, sprengen die Kosten die ohnehin schon schmale Gage: Zusätzliche Tickets, größere Appartements – vor allem, wenn Babysitter oder Partner auch noch mit muss.

150 Prozent Einsatzbereitschaft

Die Mezzosopranistin Verena Usemann ist 43 Jahre alt und steht seit Jahrzehnten als Künstlerin auf der Bühne. Seit der Geburt der drei Kinder belastet sie die fehlende Planungssicherheit in ihrem Beruf: Proben werden kurzfristig angesetzt oder Pläne umgeworfen.

Ein Mädchen lehnt sich im Theatersaal neugierig über die Lehne
Die Kinder in die Proben mitnehmen: Nicht an allen Theatern ist das erwünscht.

Gleichzeitig erwarte man von Künstler*innen 150 Prozent Einsatzbereitschaft. „Manchmal erfährt man Nachmittags um 14 Uhr, ob man am nächsten Abend Proben hat.“

Kind und Künstlerinnenkarriere unter einen Hut zu bekommen, ist ein Kraftakt. Für kaum einen Bereich gilt das so sehr wie für die Bühnenwelt. Wie schaffen es Musikerinnen, trotz kleiner Kinder abends auf der Bühne zu stehen? Ohne Unterstützung durch Familie und Freunde geht es nicht.

Die Hälfte der Mütter fühlt sich diskriminiert

Mutterschaft gilt am Theater immer noch als Tabu. 45 Prozent der befragten Bühnenkünstlerinnen geben an, diskriminierendes Verhalten auf Grund ihrer Mutterschaft im Job erlebt zu haben. Jede Vierte, dass ein Vertrag aufgrund ihrer Mutterschaft aufgelöst wurde oder sie aus einer Produktion ausgeschlossen wurde.

Die Zahlen aus dem Jahr 2021 stammen aus einer Pilotstudie des Vereins Bühnenmütter e.V. Verena Usemann hat den Verein gemeinsam mit einer befreundeten Sängerin gegründet, um Betroffene zu vernetzen, Bewusstsein zu schaffen und etwas zu verändern in der Bühnenwelt.

Über Mutterschaft spricht man nicht

Denn der Konkurrenzdruck an den Bühnen ist enorm. Unangenehme Gespräche mit dem Arbeitgeber zu führen, Zugeständnisse einzufordern – Zuschüsse für die Kinderbetreuung, familienfreundliche Probezeiten – das trauen sich die wenigsten.

Stattdessen verschweigen Musikerinnen, Sängerinnen oder Schauspielerinnen oft ihre Situation, um die Karriere nicht zu gefährden. Schuld daran ist auch das jahrhundertealte Bild des opferbereiten, männlich geprägten Künstler-Genies.

Annika Mendrala und Verena Usemann vom Verein Bühenmütter e.V.
Annika Mendrala (links) und Verena Usemann vom Verein Bühenmütter e.V. wollen, dass Mutterschaft in der Bühnenwelt kein Tabu mehr ist.

Als wahrer Künstler gilt, wer sein Leben kompromisslos der Kunst unterordnet. Weil Eltern, insbesondere Mütter, diesem Bild nicht entsprechen können oder wollen, führt das zu Scham.

Wenn Elternzeit zur Kündigung führt

Die Angst, wegen der Kinder den Job zu verlieren, ist real. Die Opernsängerin Verena Usemann hat es erlebt, als sie zum dritten Mal schwanger ist und erstmals Elternzeit beantragt. Anders als zuvor kann sie diesmal nicht schnell auf die Bühne zurückkehren. Auch, weil ihre eigene Mutter zwischenzeitlich als Unterstützung ausfällt.

Der Theaterleitung stößt ihre Entscheidung übel auf. „Sie empfanden es als Vertrauensbruch – als würde ich mich nicht mehr bekennen zu meiner Künstlerinnen-Identität“, berichtet Usemann.

Schriftlich bezweifelt die Geschäftsleitung, dass die dreifache Mutter den Anforderungen der Bühnenkarriere gewachsen sei – und drängt sie dazu, ihren Vertrag zu kündigen.

Was fehlt, ist der Aufschrei

Viele hochqualifizierte Künstlerinnen verschwinden nach der Familiengründung aus ihren Berufen. Fast die Hälfte der befragten Bühnenkünstlerinnen überlegt, den Job aufzugeben oder hat dies bereits getan.

Was Verena Usemann vermisst, ist der Aufschrei. Der Abgang der Mütter geschehe meist still und schleichend, oft aus dem Gefühl heraus, persönlich versagt zu haben. Der Verein Bühnenmütter e.V. will erreichen, dass Mütter sich nicht länger schämen, sondern Forderungen stellen.

„Die Theaterleitung hat mir massiv Druck gemacht“, sagt Verena Usemann heute über ihre Erlebnisse. „Ich hätte mit meinem jetzigen Wissen den Vertrag nicht aufgelöst. Ich hätte auf mein Recht bestanden und würde das auch allen anderen raten.“

Maßnahmenkatalog soll Theater unterstützen

Die Mezzosopranistin arbeitet inzwischen als freie Künstlerin für verschiedene Theater und Bühnen. Sie weiß, wie unterschiedlich die Wertschätzung von Müttern mit kleinen Kindern von Haus zu Haus ist.

Der Verein Bühnenmütter e.V. hat jetzt einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, der es den Institutionen leichter machen soll, sich zu verändern. Vielerorts fange der Nachholbedarf schon bei ganz grundlegenden Punkten an. „Wahnsinnig wichtig ist die Kommunikationskultur. Gibt es Räume, in denen angstfrei kommuniziert werden kann?“

Wichtigster Punkt: Die Kommunikationskultur

Was also ist konkret zu tun? Verbindliche Produktionsgespräche zum Beispiel, in denen alle Beteiligten ihre Bedürfnisse auf den Tisch bringen können. Überhaupt einen Raum für Dialog zu etablieren.

Weitere Forderungen: Unterstützung bei der Kinderbetreuung, probenfreie Samstage, Lohntransparenz, Teilzeitstellen und Jobsharing – um nur einige zu nennen.

Kind oder Kunst? Beides.

Das alles kostet nicht nur Zeit und Kraft, sondern auch Geld. Eine Ressource, die vielerorts fehlt. Was springt für die Theater dabei rum? „Es werden irgendwann nur diejenigen Kulturinstitutionen weiterkommen oder weiter bestehen, die sich strukturell wandeln“, sagt Verena Usemann.

Ein Wandel, angestoßen von einer neue Generation von Künstlerinnen – und Künstlern –die nicht mehr bereit sind, sich zwischen Kind und Karriere entscheiden zu müssen. Zum Glück, denn die Stimmen von Müttern bereichern die Bühnenwelt.

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