Professor Jörg Fegert ist Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Ulm. Außerdem ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, sowie Vizepräsident der Deutschen Traumastiftung. Seit dem Messerangriff auf zwei Mädchen in Illerkirchberg ist seine Abteilung in Ulm in Bereitschaft, falls Betroffene Beratung brauchen. Im Interview erklärt er, wie Eltern ihren Kindern bei der Verarbeitung der Geschehnisse helfen können.
SWR Aktuell: Herr Fegert, was hinterlässt diese Tat bei Kindern und Jugendlichen im Ort?
Professor Jörg Fegert: Für sie ist es wie für uns alle ein riesiger Schock. Für die Eltern ist es die Frage: "Kann ich mein Kind noch normal auf den Schulweg schicken? Wann fange ich mit Normalität wieder an?" Meine klare Botschaft dazu ist es, so früh wie möglich, weil sich sonst Ängste aufbauen und ausweiten. Wir müssen nach solchen Ereignissen schnell zur Normalität zurückfinden. Die Routinen des Alltags geben uns Stärke und Halt.
SWR Aktuell: Wenn Kinder und Jugendliche mit dieser Normalität aber noch nicht klarkommen, ist Zwang sicher der falsche Weg, oder?
Fegert: Von Zwang rede ich nicht. Aber viele Eltern werden merken, dass den Kindern die Normalität gut tut. Wenn Eltern zum Beispiel ihre größeren Kinder nach so einem Ereignis wieder zu sich ins Bett nehmen und weitere Ausnahmen machen, dann wird auch für die Kinder die große Besorgnis der Eltern deutlich. Deshalb appelliere ich, soweit das geht, den Kindern wieder einen normalen Rahmen zu geben.
SWR Aktuell: Braucht man in so einer Extremsituation vielleicht auch professionelle Hilfe?
Fegert: Wir wissen, dass bei solchen schlimmen Ereignissen ungefähr die Hälfte selbst damit klarkommt. Andere haben scheinbar am Anfang nichts und später Probleme. Wieder andere sind von Anfang an belastet. Und dafür sind wir da. Uns hat auch schon das Regierungspräsidium angesprochen, das für die Opferentschädigung und die frühen Hilfen zuständig ist. Wenn es Anfragen aus Illerkirchberg gibt, können wir hier mit unserer Traumaexpertise für Kinder und Jugendliche Angebote machen.
SWR Aktuell: Der Täter hat zwei Mädchen angegriffen. Die 13-Jährige überlebte die Attacke. Bleibt diese Erfahrung jetzt ein Leben lang? Kann man sowas vergessen?
Fegert: Nein, das kann man nicht vergessen. Man kann es auch nicht ungeschehen machen und das ist auch nicht das Ziel in unserer Therapie. Aber wenn solche Patienten Reaktionen haben wie Albträume, Flashback-Erinnerungen, dass es also wie ein Film plötzlich auftaucht, in Situationen in denen man das gar nicht will und einen das im Alltag beeinträchtigt, dann ist das eine klare Indikation für eine Psychotherapie. Was bei solchen Taten auch noch wichtig ist, ist mit dem Schuldgefühl umzugehen, überlebt zu haben. Das ist eine schwierige Situation, wenn die Schulfreundin gestorben ist. Warum durfte ich das überleben? Das ist oft eine sehr belastende Situation innerhalb von Familien. Und deshalb ist es ganz wichtig, auch denen, denen scheinbar nichts passiert ist, wie beispielsweise dem Zwillingsbruder des Mädchens, Unterstützung anzubieten.
SWR Aktuell: Der mutmaßliche Täter ist ein Mann aus Eritrea. Einige versuchen jetzt daraus politisch Kapital zu schlagen. Wie nehmen es Jugendliche auf, wenn die Umstände des Täters auf einmal wichtiger sind als die Tat und der Tod eines Kindes?
Fegert: Mir ist es wichtig, dass wir über diejenigen reden, die jetzt darunter leiden. Als Psychiater muss ich aber auch sagen, wir sehen immer wieder Menschen, Deutsche und Eritreer, die plötzlich ein völlig unvorhergesehenes Verhalten zeigen. Das ist Gott sei Dank eine kleine Minderheit der psychisch Kranken und ich will keine Panik machen. Wir wissen von dem Täter nicht, was mit ihm passiert ist. Hat er in einem wahnhaften psychotischen Zustand, im Verfolgungswahn gehandelt? War es eine geplante Tat? Insofern ist es hier wichtig, mit Hypothesen aufzuhören, und sich auf die Betroffenen zu konzentrieren und die Ermittlungsbehörden ihre Arbeit machen zu lassen. Dann werden wir mehr wissen. Die Ergebnisse sind dann wieder wichtig für unsere Prävention. Wie gehen wir mit solchen Situationen um? Ist es verantwortbar, solchen Menschen hier Asyl zu geben, aber sie nicht arbeiten zu lassen? Das sind Debatten, die dann folgen müssen.