Baden-Württemberg hat in den vergangenen Tagen und Wochen eine - auf den ersten Blick - außergewöhnliche Häufung an Straf- und Gewalttaten, die besonders großes Interesse hervorgerufen haben. Etwa die Geiselnahme in Ulm, eine erwürgte Schülerin, ebenfalls in Ulm, die Tötung einer Schülerin in St. Leon-Rot (Rhein-Neckar-Kreis), oder die eskalierte Zwangsräumung in Unterkirnach (Schwarzwald-Baar-Kreis).
Alles Fälle aus dem vergangenen Monat. Doch wie ist es um die Sicherheit im Land bestellt? Wird wirklich alles schlimmer, wie oft - vor allem in sozialen Medien - behauptet wird? Der SWR hat beim baden-württembergischen Innenministerium nachgefragt und mit einem Kriminologen gesprochen, der das Problem eher woanders sieht.
Fallende Trends in Kriminalitätsstatistiken
Für Dietrich Oberwittler vom Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht ist das Phänomen, dass aktuelle Ereignisse überinterpretiert werden, nicht neu: "Leute denken immer, dass das etwas Neues und Schlimmes ist und dass früher alles besser war", sagt er im Gespräch mit dem SWR.
Im Vergleich der letzten 20 Jahre sieht er jedoch keinen Anstieg im Bereich schwerer Gewalttaten, sondern im Gegenteil "nur fallende Trends". Auch Geiselnahmen seien so selten, dass Tendenzen dort kaum messbar seien. "Wenn es in der Berichterstattung mehrere Fälle gibt, ist das quasi nicht zu interpretieren", sagt Oberwittler.
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Laut Innenministerium sind die Fälle nicht miteinander vergleichbar und somit "nicht valide als Indikator einer bestimmten Entwicklung zu werten". Auch Aussagen auf Grundlage der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) auf Basis einzelner Wochen oder Monate seien "nicht möglich".
Anstieg bei vielen Gewaltdelikten absehbar
Auch wenn die Datenbasis der PKS für das Jahr 2023 derzeit noch nicht abschließend ausgewertet wurde, können laut Innenministerium bereits Trends abgeleitet werden. So teilt eine Sprecherin dem SWR mit, dass sowohl im Bereich der Gewaltkriminalität als auch im Deliktbereich Mord und Totschlag mehr Fälle als im Vorjahr verzeichnet wurden. 2022 waren dies laut PKS 18.101 Gewaltdelikte und 315 Fälle von Mord und Totschlag. Wieviele es 2023 waren, wird dann im Frühjahr mit der offiziellen Polizeilichen Kriminalstatistik veröffentlicht.
Ebenso zeichne sich bei Geiselnahmen ein leichter Anstieg "auf ein weiterhin vergleichsweise niedriges Fallzahlenniveau" ab. Zum Vergleich: 2022 waren es acht verzeichnete Fälle, auch in den vorangegangenen Jahren lag die Zahl im einstelligen Bereich. Ähnlich niedrig ist die Opferstatistik mit dem sogenannten "Opfertyp 'Gerichtsvollzieher'" mit 19 Fällen. Also in der Statistik, zu welcher der Fall in Unterkirnach zählen dürfte. Auch hier deute sich für das Jahr 2023 ein Anstieg an, so das Ministerium.
Kriminologe sieht "Post-Corona-Effekt"
Oberwittler sieht in diesen Anstiegen eine Art "Post-Corona-Effekt": Nach der Pandemie habe es einen plötzlichen starken Anstieg von schwerer Gewalt gegeben, allerdings sei die Zahl solcher Taten in den Jahren davor bereits stark zurückgegangen. Auch bei versuchtem Totschlag gebe es "insgesamt eine flache oder leicht ansteigende Kurve", bei den vollendeten Tötungsdelikten aber einen deutlichen Trend nach unten.
Der Kriminologe sagt: "Es ist nicht so, dass früher alles besser war". Denn: "Langfristig gesehen ist ein Trend erkennbar zu einer sichereren Gesellschaft mit weniger Kriminalität." Ganz ähnlich lautet auch das Fazit des Innenministeriums, das betont, dass Baden-Württemberg eines der sichersten Bundesländer in Deutschland sei: "Die Bürgerinnen und Bürger können hier sicher leben und sich auch sicher fühlen".
Warum dennoch der Eindruck einer gewalttätiger werdenden Gesellschaft entstehen könnte? Oberwittler sieht darin eher ein Problem der Berichterstattung. "Medienberichte sind ein schlechter Ratgeber, wenn es um die Einschätzung der Häufigkeit von Ereignissen geht", erklärt er.
"Keine Nachrichten sind gute Nachrichten", sagt er - doch das spielt in der Wahrnehmung vieler Menschen eben keine Rolle. Stattdessen überlagerten akuelle Ereignisse oft den Gesamteindruck, meist zum Negativen. Aus wissenschaftlicher Perspektive sei ein "längerer Atem" nötig - also die Betrachtung eines Zeitraums von zehn bis 15 Jahren und eben nicht die Eindrücke aus einem Monat.