Seit Mitte Januar gehen zehntausende Menschen in Baden-Württemberg und ganz Deutschland auf die Straße. Sie demonstrieren für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Viele sorgen sich um die Zukunft. Darunter auch Karla Spagerer aus Mannheim. Sie hat den Nationalsozialismus als junges Mädchen miterlebt. Ihre kommunistisch eingestellte Familie habe man verfolgt, berichtet sie, ihre Großmutter wurde 1936 von der Gestapo verhaftet, ein Onkel verschwand.
Die 94-Jährige sagt, so etwas dürfe nie wieder passieren. "Ich war überzeugt, die Demokratie hat Bestand", so Spagerer. "Aber was ich jetzt an meinem Lebensabend erleben muss, das hätte ich mir nie vorstellen können." Was jetzt zu tun ist, um die Demokratie zu retten, da ist sich Spagerer nicht sicher. Sie findet auf jeden Fall: Auf die Straße gehen hilft schon mal.
Auslöser für die Kundgebungen: das Treffen in Potsdam
Auslöser für die Kundgebungen waren die Enthüllungen über ein Treffen radikaler Rechter in Potsdam im November 2023. Dabei waren auch AfD-Politiker, Mitglieder der CDU und der Werteunion, berichtete die Rechercheplattform "CORRECT!V". Es soll um Pläne gegangen sein, Millionen Menschen abzuschieben - auch Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Seit diesen Veröffentlichungen sorgen sich viele Menschen im Land.
Politische Kritik und Demonstrationen Rechtsextremismus: Staatssekretär fordert Theater und Museen zum Handeln auf
Viele Menschen gehen derzeit auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Die Kultur darf sich aus Sicht des BW-Staatssekretärs Arne Braun nicht heraushalten.
Demonstrationen finden seitdem in ganz Baden-Württemberg statt, wie zum Beispiel in Neckarsulm (Kreis Heilbronn) am 30. Januar mit rund 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Aber was hat die Menschen auf die Straße geführt? Elisabeth Ewertowski ist aus Erlenbach (Kreis Heilbronn) gekommen. Sie sei eigentlich gar nicht politisch, sagt sie. Die AfD mache Druck und verbreite Lügen, dagegen wolle sie etwas setzen. Für Claudio Springer aus Heilbronn gibt es mit den Demos zum ersten Mal eine Plattform, wo man hingehen könne, wenn man gegen die AfD sei.
Die Menschen demonstrieren - aber was macht die Politik? In Sigmaringen marschierten vergangenen Samstag (27.1.) Gerlinde und Winfried Kretschmann (Grüne) mit. Kretschmann betonte aber, rein privat, nicht als Ministerpräsident vor Ort zu sein.
Unterschiedliche Gruppierungen auf der Straße
Wer sind die Demonstrantinnen und Demonstranten, die im ganzen Land auf die Straße gehen? Jedenfalls keine einheitliche Gruppe. Dabei sind Omas gegen Rechts. Aber auch Fridays for Future, die sich eigentlich für den Klimaschutz engagieren. Und Palästina-Anhänger. Dazu Gewerkschaften und Parteien. Also auch Vertreterinnen und Vertreter politischer Organisationen, die eigentlich ganz andere Anliegen haben.
In Neckarsulm sehen es viele Demonstranten eher als Stärke, dass die Menschen aus sehr unterschiedlichen Lagern kommen. Die Heilbronnerin Sabrina Theel sagt, für sie gehe es jetzt ums große Ganze, und nicht um die kleinen politischen Differenzen. Das werde doch deutlich, wenn es so viele verschiedene Teilnehmer bei den Kundgebungen gebe.
Einige Unternehmen haben sich inzwischen ebenfalls klar positioniert: Thomas Olemotz, Chef des IT-Dienstleisters Bechtle mit Sitz in Neckarsulm, findet es "erschreckend und verstörend", dass man die Grundwerte und die Demokratie schützen müsse. Die Situation dürfe einen aber nicht sprachlos machen, man müsse jetzt "Haltung zeigen". Für Weltoffenheit und gegen Rechtsextremismus sprechen sich auch weitere große Unternehmen im Land wie die Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) aus.
CDU Lahr distanziert sich von Demo gegen Rechtsextremismus
Zu den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus wird von ganz unterschiedlichen Akteuren aufgerufen: Gewerkschaften, Kirchen, NGOs, aber auch von Parteien, Bürgermeistern und Gemeinderäten. So auch in Lahr (Ortenaukreis). Im Januar hatten dort zunächst alle Fraktionen des Gemeinderates einschließlich des Oberbürgermeisters Markus Ibert zu einer Demonstration gegen Rechtsextremismus aufgerufen. Die Lahrer CDU ging dann jedoch auf Distanz mit der Begründung, nur mit klarer, gerechter Politik seien Wähler von der AfD wegzuholen. Diese Haltung teilen allerdings nicht alle CDU-Gemeinderäte in Lahr. Harald Günther etwa betonte, es sei wichtig, Flagge gegen Rechts zu zeigen. Deshalb nehme er an der Kundgebung teil.
Was bringen die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus?
Möglicherweise haben die Demonstrationen und Kundgebungen sogar messbare Auswirkungen auf die Wahlergebnisse. Das sagt zumindest Vincente Valentim von der Universität Oxford, der sich mit entsprechenden Studien beschäftigt hat, berichtete "ZEIT ONLINE". Die Wirkung könne man herausfinden, indem man Orte miteinander vergleiche, die möglichst ähnlich seien und in denen sich das Wahlverhalten ähnlich entwickelt habe - nur dass es in dem einen Proteste gab und in dem anderen nicht.
Drei kürzlich erschienene Studien zu Griechenland, Frankreich und Italien hätten eine messbare Wirkung auf die Wahlen ergeben, so Valentim. In Griechenland habe die rechtsextreme Partei "Goldene Morgenröte" durch die Proteste ab 2012 rund einen Prozentpunkt schlechter abgeschnitten. In Norditalien habe die Lega bei den Kommunalwahlen 2020 sogar rund vier Prozentpunkte weniger erzielt. Und auch in Frankreich habe der Front National bei der Präsidentenwahl 2002 Einbußen aufgrund der Proteste erlitten.
Jüngste Umfragewerte in Deutschland könnten diese These stützen. Laut ARD-Deutschlandtrend vom 1. Februar hat die AfD drei Prozentpunkte verloren im Vergleich zu Anfang Januar. In die gleiche Richtung weisen die Umfrageergebnisse des BW-Trends von Mitte Januar: Danach kam die AfD in Baden-Württemberg auf 18 Prozent, das sind zwei Prozentpunkte weniger als im September 2023.
Mehr Demokratie an der Basis
Doch reicht das aus oder muss sich grundsätzlich etwas verändern? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein Forschungsprojekt an der Universität Stuttgart. Wie könnte die Demokratie künftig aussehen? Was kann genau jetzt von der Theorie in die Praxis umgesetzt werden? Dozent André Bächtiger findet: Politikerinnen und Politiker sind in der Bringschuld, müssen den Bürgerinnen und Bürgern schnellstmöglich mehr Mitsprache anbieten. Sonst drohe die Gefahr, dass die Menschen zu extremen Parteien abwandern. Daher sei mehr direkte Demokratie notwendig. Bei der direkten Bürgerbeteiligung könne man zum Beispiel effektiv ein Veto einlegen und die politischen Akteure zwingen, auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger einzugehen.
Diskussion bei "Zur Sache Baden-Württemberg"
Über die Frage, wer die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Demos gegen Rechtsextremismus sind, wurde am Donnerstag im SWR in der Fernsehsendung "Zur Sache Baden-Württemberg" diskutiert. Mit dabei: Andreas Schwarz (Grüne) und Anton Baron (AfD), beide Fraktionsvorsitzende ihrer Parteien im baden-württembergischen Landtag, außerdem der parteilose Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und die Leiterin der Abendakademie Mannheim, Susanne Deß.
Baron behauptete, die Kundgebungsteilnehmer seien durch die - wie er sagte - "falsche Berichterstattung" von "CORRECT!V" aufgehetzt worden. Ganz anders sahen das Palmer und Deß: Es sei die Mitte der Gesellschaft, die auf die Straße gehe. Aufgehetzt worden sei da niemand. Schwarz verwies darauf, dass auf der Straße ganz unterschiedliche Menschen demonstierten: Großeltern mit ihren Enkeln, Arbeitnehmer und Unternehmer, Schülerinnen und Schüler und Rentner. Sie alle wollten ein Zeichen gegen Rechtsradikale, gegen die AfD setzen.
BW-Fraktionschef Baron will Grüne Jugend beobachten lassen AfD-Politiker erntet Kritik nach Äußerungen über Verfassungsschutz-Vorgehen
Der AfD-Fraktionsvorsitzende in Baden-Württemberg, Anton Baron, will in Thüringen den Innenminister "austauschen" und die Grüne Jugend in den Fokus nehmen. Die Äußerungen ernteten breite Kritik.
Den Vorwurf, rechtsextremistisch zu sein, bestritt Anton Baron in der SWR-Sendung "Zur Sache Baden-Württemberg". Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz sei parteipolitisch motiviert. Baron erklärte, wenn die AfD in Thüringen an die Macht komme, werde das ein Ende haben: Wörtlich sagte er: "Sie werden sehen, sobald wir in Thüringen den Innenminister austauschen, wird die Verfassungsschutzgeschichte ganz schnell beendet werden." Stattdessen werde man dann in Thüringen die Nachwuchsorganisation der Grünen ins Visier nehmen.
Bei "Zur Sache Baden-Württemberg" im SWR zum Thema Demonstrationen gegen Rechtsextremismus waren Andreas Schwarz (Grüne), Anton Baron (AfD), Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und die Leiterin der Abendakademie Mannheim, Susanne Deß, zu Gast:
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer erklärte, man müsse vor den Remigrations-Plänen, um die es bei dem Treffen von Rechtsextremen in Potsdam gegangen sei, keine Angst haben: "Wir haben starke Institutionen. Wir haben eine wehrhafte Demokratie. Wir haben Hunderttausende von Polizisten, die unseren Staat verteidigen. Wir haben Richter, Staatsanwälte, wir haben Gemeinderäte, Oberbürgermeister." Wenn Rechtsextreme wirklich versuchen sollten, solche Pläne, wie sie in Potsdam diskutiert worden seien, umzusetzen, hätten sie damit keinen Erfolg.
Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz
Die AfD in Baden-Württemberg wird seit Juli 2022 als rechtsextremer Verdachtsfall vom Verfassungsschutz beobachtet. Seit der Einstufung zum Beobachtungsobjekt bestätigten etwa extremistische Äußerungen und Positionen die Einschätzung, "dass die extremistischen Kräfte innerhalb der AfD bemüht sind, ihre innerparteiliche Wirkungsmacht zu stabilisieren und auszuweiten", teilte ein Sprecher des Landesamtes mit. Bereits seit November 2018 beobachtet der Verfassungsschutz die AfD-Jugendorganisation, die Junge Alternative. Auch auf Bundesebene werden die AfD und ihre Jugendorganisation von den Verfassungsschützern als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtet.
Die 94-jährige Zeitzeugin Karla Spagerer aus Mannheim, die den Nationalsozialismus als Kind miterlebt hatte, engagiert sich gegen Rechtsextremismus, indem sie öffentlich von ihren Erfahrungen im Dritten Reich berichtet. Sie hat viele Schulen in Mannheim und Umgebung besucht, um mit Schülerinnen und Schülern über den Nationalsozialismus zu sprechen. Die vielen Demonstrationen findet sie gut: "Das ist doch ein gutes Zeichen, haben wir doch gesehen im Osten, als noch die Grenze war zur DDR. Erst als die Menschen auf die Straßen gegangen sind, hat sich etwas geändert."
Sie hofft nun, dass sich auch die jungen Menschen engagieren. Und dass auch die Demonstrationen dazu beitragen, zu verhindern, dass sich die Vergangenheit wiederholt.