Putins Propaganda vom Krieg gegen den Westen wirkt. Kritiker des Kremls wurden eingesperrt, ermordet oder leben im Exil. Zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen das System gibt es nicht.
Nach dem Ende der Sowjetunion hat es keine ernsthafte Aufarbeitung des Stalin-Terrors gegeben. Erklärt das das Verhalten vieler Russen heute?
Korruption und Kriminalität: Gesetzlosigkeit in Russland Anfang der 1990er
Die russische Gesellschaft ist zu Beginn der 1990er zerrissen. Einerseits herrscht demokratische Aufbruchsstimmung, andererseits geht es wirtschaftlich bergab. Viele Staatsbetriebe werden privatisiert, vor allem ein paar wenige Finanzoligarche profitieren davon. Korruption ist allgegenwärtig, Kriminalität auch. Es habe sich ein Gefühl der Gesetzeslosigkeit ausgebreitet, erzählt der Journalist Vladimir Esipov.
Da war ein enormer Anstieg an Kriminalität in jeder Hinsicht. Und die Gesellschaft durchging eine enorme Transformation von kommunistischen Einstellungen zu einer Art Kapitalismus. Aber das war ein komplett ungeregelter Kapitalismus. Das war nicht ein Silicon Valley, sondern eher so eine komplett wilde Savanne, wo jeder sich gejagt hatte, was ihm geschmeckt hat und ohne Rücksicht und ohne Regeln und ohne Normen.
Negative Gefühle in der russischen Gesellschaft trotz persönlicher Freiheit
Raubüberfälle auf der Straße, Morde wegen ein paar Ohrringen waren zu Beginn der 1990er an der Tagesordnung. Eine paradoxe Situation entstand: Einerseits gibt es im Land so viele persönliche Freiheiten und Rechte wie nie zuvor in Russland. Freie Presse, Reisefreiheit, das Recht zu demonstrieren. Andererseits überwiegen in der Gesellschaft negative Gefühle: Unsicherheit, Angst, Wut.
Wovon die Menschen kaum Abschied nehmen konnten, das ist die Rolle des Staates. Sie haben ein Gefühl gehabt, es ist alles nur ein Chaos, der Staat kümmert sich nicht.
Aufarbeitung der Stalinzeit gelingt in Russland nicht
Die Historikerin Irina Scherbakowa arbeitet für die Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial". Deren Ziel: Die Gesellschaft über die kommunistischen Verbrechen unter Lenin und Stalin aufklären. Irina Scherbakowa und ihren Mitstreitern ist zu verdanken, dass sich die sowjetische Regierung Ende der 1980er gezwungen sieht, die Millionen Opfer des Staatsterrors postum zu rehabilitieren und viele Menschen über das wahre Schicksal ihrer Familienangehörigen aufzuklären.
Gesellschaft Neuer Stalin-Kult in Russland
Stalin gilt als einer der größten Massenmörder der Menschheit. Unter Putin erlebt der Sowjet-Diktator ein Revival. Seine Verehrung dient auch dazu, den Ukraine-Krieg zu rechtfertigen.
Paradoxerweise wird diese Erinnerungsarbeit nach dem Zerfall der Sowjetunion zunehmend schwieriger. Gemäß der 2021 verschärften Gesetzgebung der Duma wird "Memorial" zum ausländischen Agenten erklärt und die Arbeit der Organisation verboten. Im Ausland ist die Anerkennung dagegen groß. Irina Scherbakowa und ihr Team erhalten 2022 den Friedensnobelpreis. Sie machen weiter – größtenteils im Exil. Auch Irina Scherbakowa lebt seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in Deutschland. In Russland beobachtet sie schon seit Längerem eine Sowjet-Nostalgie.
Dieses soziale sowjetische System, so schlecht das auch war, trotzdem, es hat funktioniert. Die Löhne sind ausgezahlt worden. Jetzt brach vieles zusammen. Und man hatte ein Gefühl, dass man von dieser Freiheit eigentlich nichts bekommt.
Postsowjetische Realität: Inflation und Disziplinierung
Der Wechsel von der Plan- zur freien Marktwirtschaft führte zu einer Hyperinflation, die im Jahr 1992 schätzungsweise 2000 Prozent erreichte – und bis 1994 im dreistelligen Bereich blieb. Menschen, die Sparbücher oder Versicherungen hatten, verloren alles. Erst im Jahr 1996 stabilisierte sich die Inflation und begann langsam zu schrumpfen. Viele wanderten aus.
Und die Menschen, die geblieben sind? Wie haben die großen Umbrüche sie geprägt? Wie sind sie in der neuen postsowjetischen Realität zurechtgekommen? Diese Fragen haben sich Moskauer Soziologen schon Anfang der 1990er gestellt, etwa Lew Gudkow. Er ist Teil eines Teams, das die russische Bevölkerung unter dem Titel: "Sowjetischer Durchschnittsbürger – ein soziales Porträt" jahrelang erforscht hat.
Die Idee war zu sehen, was hier von diesem staatlichen Einfluss angenommen wird, von dieser Art von Zwangspraktiken, Erziehung, Sozialisierung, Abschreckung, Disziplinierung, was immer man will – und wie eine Person damit zurechtkommt.
"Homo sovieticus" wurde nicht vom postsowjetischen Menschen abgelöst
Lew Gudkow ist Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts "Lewada Zentrum". Seine Leute befragten damals tausende Menschen, um ein Bild vom sowjetischen Durchschnittsbürger zu bekommen. Die Untersuchung gilt als Beginn der modernen russischen Soziologie. Lew Gudkow glaubt, dass nach der Oktoberrevolution 1917 ein neuer Menschentyp entstanden ist: der sogenannte "Homo sovieticus". Eine sehr widersprüchliche Figur
Der Homo sovieticus identifiziert sich mit dem Staat. Er begreift, dass seine Möglichkeiten mit seiner sozialen Stellung und dem Zugang zu verschiedenen Privilegien verbunden sind. Und er entwickelt das sogenannte "Doppelte Denken". Das bedeutet: Auf einer symbolischen Ebene zeigt er sich loyal und unterstützt alle Aktionen des Staates. Aber in Wirklichkeit ist er nur mit dem eigenen Überleben in einem System aus Verboten beschäftigt. Und er ist sehr misstrauisch, weil er sich nur auf seine ihm nahestehenden Menschen verlassen kann – Familie, Freunde. Gleichzeitig ist er auch ein passiver Mensch, denn bei jeder Aktivität drohen ihm alle möglichen Strafen, Bußgelder und Repressionen.
Als die Soziologen um Lew Gudkow Anfang der 1990er ihre Ergebnisse veröffentlichen, sind sie sich sicher: Sie haben einen Menschen beschrieben, den es bald nicht mehr geben wird. Denn er wird von einem neuen postsowjetischen Menschen abgelöst, der sein Glück in einer freieren, liberaleren Gesellschaft finden wird. Aber sie irren sich gewaltig.
Grundlegende Reformen bleiben aus, "Demokratie" ist nur eine Worthülse
Zwei Umfragen, eine von 1994 und eine von 1999, haben gezeigt, dass das überhaupt nicht der Fall war. Das kommunistische System brach zwar zusammen. Einige grundlegende Machtinstitutionen aber blieben praktisch unangetastet. Der Geheimdienst wurde nicht reformiert, die Armee, das Bildungssystem, das Justizsystem. Und diese alten Machtstrukturen haben sich sehr schnell regeneriert. Die Wiederherstellung der totalitären Institutionen brachte auch die Wiederherstellung des Homo sowjeticus mit sich.
Für den Homo sovjeticus zeigt sich die Demokratie nur als Worthülse. In Wirklichkeit lebt er weiter nach den altbekannten Regeln.
In diesem Sinne sind das alles Anzeichen für das gegenwärtige Regime, die sich bereits vor Putin herausgebildet haben. Die Masse der Menschen, die anfangs alle Reformen unterstützte und sich mit großem Enthusiasmus an diesen Prozessen beteiligte – aber eben in der Regel nur entsprechend der Strategie des "Doppelten Denkens", also nur mit Worten, nicht aktiv – diese Masse fühlte sich letztendlich durch den Zusammenbruch des gesamten staatlichen Regierungssystems extrem benachteiligt und bestohlen. Und das hat eine Gegenreaktion ausgelöst: Unzufriedenheit, Groll, eine Art nostalgische Sehnsucht nach der idealisierten sowjetischen Vergangenheit. Und dann, unter dem Einfluss der Machtstrukturen und der Propaganda für einen Machtwechsel, kam Putin.
Der Philosoph und Politologe Alexander Zipko hat die Erwartungen vieler Menschen in Russland an den neuen Präsidenten Anfang 2000 in einem Artikel zusammengefasst:
Die Ära Jelzin, eine Ära der Stagnation und des Auseinanderdriftens der Russischen Föderation, hat das traditionelle Bedürfnis nach einer Einzelherrschaft, nach einer starken Hand des Staates verschärft.
Unter Putin geht es den Menschen zu Beginn der 2000er so gut wie nie
Und tatsächlich geht es den russischen Bürgerinnen und Bürgern unter Putin zu Beginn der 2000er so gut wie nie zuvor. Der Präsident festigt die Zentralmacht, führt die sogenannte "Diktatur des Gesetzes" ein, zwingt Oligarchen, Steuern zu zahlen, und sorgt dafür, dass Renten und Gehälter steigen. Finanziert wird das über den damals stark angestiegenen Ölpreis – Russlands Haupteinnahmequelle. Der Journalist Vladimir Esipov:
Das war ein unwahrscheinlicher Reichtum, der plötzlich über Russland ausbrach. Das war unwahrscheinlicher Anstieg im Einkommen. Das war wirklich faszinierend.
Zeitgleich mit Wladimir Putins Aufstieg zum Präsidenten siedelt auch Vladimir Esipov nach Moskau um. Er arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Studio Moskau, 2008 wird er zum Chefredakteur des russischen Ablegers der Zeitschrift "GEO". In dieser Funktion ist Esipov oft von Kaliningrad bis Wladiwostok unterwegs.
Was ich gesehen habe, quer durch das ganze Land, wie schnell und wie massiv sich die Gesellschaft entwickelt hat in Sachen Infrastruktur. Überall neue Flughäfen, überall neue Hotels, überall neue Restaurants, überall unwahrscheinliche unternehmerische Energie und Neugier und Tatkraft. Was die Gesellschaft angeht, auch egal, wo ich hingekommen bin, bin ich auf sehr neugierige, sehr aufgeschlossene und sehr offene Menschen getroffen, die aber mit dem Gedanken, die westliche liberale Demokratie, überhaupt nichts anfangen konnten, weil sie das einfach nicht kannten.
Vorwurf an den Westen: demokratische Entwicklung in Russland nicht gefördert
Der Westen habe auch Fehler gemacht, sagt Vladimir Esipov, und versäumt, die demokratische Entwicklung Russlands gezielt zu fördern. Einfach anzunehmen, Russland sei quasi wie ein großes Estland und mit der Marktwirtschaft käme automatisch auch die Demokratie, habe unterschlagen, dass Russland eine völlig andere Kultur habe.
Das ist eine patriarchalische, konservative, orthodoxe Gesellschaft, die sehr traditionsbewusst ist und sehr besonnen auf Geschichte und Nationalstolz und ihre Größe. Und da zu hoffen, dass jetzt plötzlich alle auf Parlamentarismus umschwenken und auf die Demokratie, wie wir das hier kennen, war so ein bisschen – ich will nicht sagen naiv – sehr wohlgesonnen gedacht, von der westlichen Seite aus, aber das war ein bisschen unrealistisch.
Patriarchale Gesellschaft hat wenig Probleme mit Putins Politik
So ist auch zu erklären, dass viele Menschen in Russland es gar nicht problematisch finden, dass unter Putin die freie Presse peu à peu ausgeschaltet wird, dass kritische Journalistinnen wie Anna Politkowskaja oder die Menschenrechtlerin Natalia Etsemirowa ermordet werden. Die Historikerin Irina Scherbakowa von Memorial hat diese Entwicklungen dagegen sehr genau beobachtet. Unter Putin habe sich ein gefährlicher Ideologie-Cocktail entwickelt, der seine Kraft aus einer Nostalgie für eine verklärte, gute Sowjetzeit und der Sehnsucht nach einem starken russischen Imperium bezöge, sagt sie. Zentral dafür: der Sieg im Zweiten Weltkrieg über Nazi-Deutschland.
Dieser Sieg wurde immer mehr und mehr fast zu einer Ikone und zu einem sehr aggressiven Mythos. Also gegen den Westen und auch gegen Deutschland in vielerlei Hinsicht. Das wurde mit jedem Jahr stärker und stärker und stärker.
SWR Februar 2024