Laurent Binets neues Buch spielt im 16. Jahrhundert und schreibt die Weltgeschichte um: Christoph Kolumbus' Mission scheitert und die Inka und Azteken erobern stattdessen den europäischen Kontinent. Mit gerade mal 192 Männern und Frauen landet Inkahäuptling Atahualpa in Europa und besiegt den Habsburger-Kaiser V.
Wissbegierig saugt er alles auf, was es über die europäischen „Eingeborenen“ zu lernen gibt, er liest Machiavelli und lernt das komplizierte Machtgefüge der Zeit kennen. Und er bringt den Europäern die Kultur seines Volkes näher.
Laurent Binet arbeitet mit fingierten Quellen und erzählt glaubwürdig und amüsant eine Alternativweltgeschichte in der echte historische Persönlichkeiten, wie Martin Luther oder der Schriftsteller Cervantes, auftreten.
Binet dreht den historischen Stoff einfach um
Es war das vielleicht größte Husarenstück der Weltgeschichte: Zahlenmäßig heillos unterlegen, mit viel Chupze und etwas Glück haben Francisco Pizarro und seine Conquistadoren innerhalb kürzester Zeit das mächtige Reich der Inka erobert.
"Ich finde es unglaublich, dass 200 Spanier es geschafft haben, ein Imperium von mehreren Millionen Menschen zu erobern", erklärt der Romancier Laurent Binet in einem Internetvideo der Bibliothèque Publique d’ information.
Sein Ansatz, diesen historischen Stoff umzuarbeiten, ist fast so anmaßend wie Pizarros Vorgehen in Südamerika. In seiner Geschichte sind es nicht die Europäer, die Südamerika erobern. Hier landen die Inka in Spanien und unterjochen den Habsburger-Kaiser Karl V.
Fingierte Quellen bilden die Grundlage der Geschichte
Erzählt wird die Geschichte anhand fingierter Quellen. So zum Beispiel im Hauptteil: Den Atahualpa-Chroniken, benannt nach der Hauptfigur des Romans, dem Inkakönig, Atahualpa.
Der muss in Binets fiktiver Quelle, anders als der echte historische Atahualpa, seine Heimat verlassen, weil er einen Krieg verloren hat. Mit zweihundert Mann schifft er sich nach Lissabon ein. Dort findet er zunächst Unterschlupf in einem Kloster:
Atahualpa zweifelt zwischenzeitlich an seinem Eroberungsvorhaben
Die schreckhaften Eingeborenen dieses rückständigen Kontinents sind seltsam besessen von ihrem „angenagelten Gott“ und haben schlechte Manieren, aber militärisch sind sie durchaus schlagfertig.
Und so muss sich Atahualpa nach seiner ersten Begegnung mit portugiesischen Männern in Rüstungen, erstmal mit viel Wein über das weitere Vorgehen klar werden.
Das Europa des konfessionellen Zeitalters wird satirisch dargestellt
Die Art und Weise wie Atahualpa das dann doch schafft, ist ein durchaus packendes Heldenepos und gleichzeitig eine gelungene Satire auf das Europa des konfessionellen Zeitalters.
Schon in seinem ersten Roman „HHhH“ hat Binet das Verhältnis von Fiktion und historischen Begebenheiten ausgelotet; anhand der Geschichte des Attentats auf Roland Heydrich in Prag 1942.
In „die siebte Sprachfunktion“, erschienen 2015, hat er das Pariser Intellektuellenleben der 70er und 80er Jahre satirisch portraitiert. Fiktion, basierend auf der Umarbeitung vieler Originalquellen, ausgehend von einem fiktiven Mord am Schriftsteller Roland Barthes.
Binet bleibt nah an historischen Begebenheiten
„Eroberung“ erkundet nun Europa ab 1531 auf ähnliche Art und Weise. Nicht nur die Herrscher der Epoche, auch Größen des Geisteslebens, von Martin Luther bis hin zum Maler El Greco und dem Schriftsteller Cervantes haben ihre Auftritte in dem Roman.
Auffällig ist, wie nah Binet trotz steiler Grundthese an echten historischen Begebenheiten bleibt. Beeindruckend, wie er historische Ikonen zum Leben erweckt:
Atahualpa dient als Projektionsfläche für den Leser
So lebendig die Europäer geschildert werden, so blass und eigenschaftslos bleiben, wahrscheinlich auf Grund der schlechten Quellenlage, die Inka. Bis auf ein paar Landwirtschaftsreformen und religiöse Toleranz haben sie den Europäern wenig Kultur überzustülpen.
Umgekehrt nimmt Atahualpa wissbegierig alles auf, was es vom neuen Kontinent zu lernen gibt. Er liest Machiavelli und lernt die tiefen Risse im europäischen Machtgefüge für sich zu nutzen.
Gerade weil er so wenig eigene Inka-Prägung einbringt, ist Atahualpa eine perfekte Projektionsfläche für den Leser, um durch seine Augen den neuen Kontinent Europa zu erkunden und auch zu unterwerfen.
Binet gelingt es, das Unwahrscheinliche plausibel wirken zu lassen, und dabei geht sein Atahualpa mit noch schlechteren Voraussetzungen ans Werk als der historische Conquistador Pizarro.
Denn er hatte laut dem Evolutionsbiologen Jarred Diamond drei Trümpfe im Ärmel, die den Inka fremd waren: Pferde, Waffen aus Eisen und Pockenviren.
Zwei Prologe eröffnen den Roman
In einem ersten etwa 30-seitigen Prolog lässt der Autor einige Wikinger weiter nach Amerika vordringen als historisch verbürgt. Sie bringen den Inka, was sie in der zweiten Episode brauchen, um Christoph Columbus‘ Männer zurück ins Meer zu werfen.
Beide Prologe sind anhand abgewandelter Originalquellen erzählt: Orientiert an der Vinlandsaga und den Tagebüchern von Christoph Columbus. Beides ist dem Hauptteil, den eigentlichen Atahualpa-Chroniken, vorangestellt.
Der studierte Historiker Binet profitiert von seinen Studienerfahrungen
Mit dieser Herangehensweise folgt der Autor weniger einer dramaturgischen Schriftsteller-Logik, als der logisch-erklärenden eines Historikers:
Seinem Buch ist dieser Zugang jederzeit anzumerken.
„Eroberung“ ist perfekt geeignet für historisch interessierte Leser
„Eroberung“ ist ein packender Abenteuerroman, in Form und Ton nah an der Literatur des 16. Jahrhunderts und dennoch leicht zugänglich für zeitgenössische Leser.
Ein unterhaltsamer und gut recherchierter Querschnitt über Leben und Wirken von Europas Herrschern, Denkern und Künstlern jener Epoche. Wer ein wenig Sinn für Ironie mitbringt und sich für Geschichte interessiert, wird an dem Buch seine Freude haben.