Große Auszeichnung für einen behutsamen Autor
„Heimaten“ heißt ein Gedicht des diesjährigen Georg-Büchener-Preisträgers Lutz Seiler und „Heimaten“ heißt auch der Essay, in dem Lutz Seiler seine Herkunft beschreibt.
Warum zwei Dörfer? Weil das eine, Culmitzsch, im Jahr 1968 für den Uranabbau in der ehemaligen DDR einfach geschleift wurde. Darum also die „Heimat“ im Plural. Und weiter: „Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere prägten diese Zeit“. Schlüsselbegriffe seines Lebens und Schreibens.
Dass Seiler zur Literatur fand, war nicht abzusehen, erst während seiner Zeit bei der NVA, der Nationalen Volksarmee der DDR, begann er zu lesen. Und wenn er davon erzählt, dann spürt man als innersten Antrieb die Verwandlung der alltäglichen Tristesse in Magie, in „magische Plätze“, durch die er, der junge Leser, die Welt erst erträglich finden kann.
Darum ist Lutz Seiler ein bedächtiger, ein behutsamer, ein zurückhaltender Autor geworden, keiner der schnellen, medial omnipräsenten.
Im paradoxen Sinne ein Autor der ehemaligen DDR
Aber vielleicht steckt doch hinter der Entscheidung der Büchner-Preisjury ein ganz gegenwärtiger Grund, nämlich ein Versuch, die laufenden Mediendebatten um Ost- und West-Identitäten, Demütigung und Arroganz, schlau zu unterwandern. Denn „Heimaten“ liegen auch quer zu dieser brachialen Identitätspolitik.
Lutz Seiler ist in einem paradoxen Sinne ein Autor der ehemaligen DDR. Ohne einen Peter Huchel, ohne einen Wolfgang Hilbig scheint seine Sprache nicht möglich. Sie trägt eine Genauigkeit in sich, die nicht vom Reden kommt, sondern vom Hinschauen und Hinhören, sie ist im besten Sinne passiv, sie nährt sich vom Schweigen.
Handwerk heißt ihr erstes Gesetz, die Dinge mit Worten berühren, Konzentration. Und immer auch: Bewahrung.
Peter Huchel und Wolfgang Hilbig mussten beide die DDR verlassen. Ob sie jemals in der damaligen BRD angekommen sind? Sie wurden gezwungen, in „Heimaten“ zu leben. Diesen Ort hat Lutz Seiler freiwillig gewählt. Dass er heute in Schweden und in Wilhelmshorst bei Potsdam zuhause ist, dort sogar noch im „Peter-Huchel-Haus“ wohnt ... eben „Heimaten“.
Buchkritik: „schrift für blinde riesen“
Die Büchner-Preisjury ehrt einen vielfach ausgezeichneten Autor
2007 den Ingeborg Bachmann-Preis für eine Erzählung, mit der Lutz Seiler schlagartig bewiesen hat, dass seine Lyrik und seine Prosa den gleichen Gesetzen der Genauigkeit folgen.
2014 gewann er mit seinem ersten Roman „Kruso“ den Deutschen Buchpreis. Er spielt in den letzten Tagen der taumelnden DDR auf Hiddensee, wo sich eine Aussteigergruppe versammelt, um ein anderes Leben zu leben, eine Art Nischenleben zwischen politischer Dissidenz und spießiger Angepasstheit, das aber dann doch im schonungslosen Kampf um Einfluss und Macht seine dunklen Seiten offenbart.
Buchkritik: „Stern 111“
Für „Stern 111“ erhielt Seiler 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse. Es ist ein Wenderoman, der in Ostberlin nach dem Fall der Mauer spielt, eine kurze Zeit der Anarchie, nicht mehr DDR, noch nicht geeintes Deutschland. Eine Stadtlandschaft der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, angeschlagen, beschädigt, heruntergekommen, aber gerade darum voller Energie und Träume.
Sozusagen ein Ort voller „magischer Plätze“: die Keller von besetzten Häusern, die Abbruchhalden, die billigen Kneipen. Und dazwischen einer, der – sehr nah an Seilers Autobiografie – unbedingt Schriftsteller werden möchte. Dass Menschen zum Glück geboren sind, mag man nach beiden Romanen nicht mehr glauben.
Lutz Seiler benennt schonungslos die Gefahren egalitärer Utopien
Lutz Seiler ist kein pessimistischer Autor, aber einer, der die Gefährdung jeder egalitären Utopie schonungslos benennt.
Nicht anders als der Namensgeber des Preises Georg Büchner, der die Obrigkeit seiner Zeit um der Hoffnungslosen willen ohne Scheu bekämpfte, aber in keinem seiner literarischen Werke, nicht in „Dantons Tod“, nicht im „Lenz“, nicht im „Woyzeck“, nicht in „Leonce und Lena“, einen Funken Hoffnung zurücklässt, dass die Menschen dieser Aufgabe gewachsen seien.
Darum ist Lutz Seiler ein würdiger Preisträger.