Literatur

Eine eigensinnige und freie Stimme - Emine Sevgi Özdamar erhält den Georg-Büchner-Preis 2022

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Autor/in
Frank Hertweck

Emine Sevgi Özdamar erhält den Georg-Büchner-Preis 2022. Das gab die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am 9. August bekannt. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird im Rahmen der Herbsttagung der Akademie am 5. November 2022 verliehen.

Kommentar von SWR Literaturchef Frank Hertweck

Das ist eine gute Wahl, eine sehr gute Wahl. Emine Sevgi Özdamar ist eine Preisträgerin, wie es sie noch nicht gab. Auf eine radikale Art ist sie in der Sprache zuhause, eben weil sie das Land ihrer Herkunft früh verlassen hat: die Türkei. Oder anders: Weil sich Leben und Worte trennen, lassen sie sich auch neu zusammenfügen. Und genau das führt zu diesem „hochpoetischen Sound“, den die Jury zurecht lobt.

Özdamar ist 1946 geboren, schon in den 1960er Jahren verließ sie die Türkei für einige Zeit, dann endgültig Mitte der 1970er Jahre, weil das Leben für die Schauspielerin nach dem Militärputsch unerträglich geworden war. Sie ging nach Ost-Berlin, an die Volksbühne, lebte aber in einer WG in Westberlin, eine Grenzgängerin im Alltag.

Dann folgte sie dem Regisseur Benno Besson nach Paris und Avignon. Anschließend Bochum mit Claus Peymann, dann das Schauspiel Frankfurt, die Volksbühne Berlin, die Kammerspiele München, Spielfilme mit Hark Bohm oder Doris Dörrie.

Ihren literarischen Durchbruch hatte Emine Sevgi Özdamar 1991 beim Ingeborg Bachmann-Preis

Ihren literarischen Durchbruch erzielte sie 1991 beim Ingeborg Bachmann-Preis, und jeder, der den Siegertext damals gelesen hatte, wußte: Hier gibt es eine ganz besondere, eigenwillige Autorin. Das bestätigte ihr Romandebut „Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus.“ Die Geschichte ihrer Kindheit, die Geschichte einer Kindheit.

Es folgten weitere Erfolgsbücher wie „Die Brücke vom Goldenen Horn.“ Dann war es einige Zeit still um Emine Sevgi Özdamar. Aber im letzten Jahr kehrte sie mit einem fulminanten, von der Kritik gefeierten Roman zurück: „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Wieder erzählt sie von Grenzüberschreitungen, von Exil, wieder ist ihr Schreiben an ihre Biographie angelehnt, aber im Erzählen von einem individuellen Schicksal spiegelt sich die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie ist der Schatten, der den Raum begrenzt.

In Özdamars Sprache herrscht die Mündlichkeit des Theaters

Emine Sevgi Özdamars Romane sind große Erinnerungsliteratur, die sich aus Kleinigkeiten speist. Sie ist eine genaue, aber keine nüchterne Beobachterin, jedes Detail kann als Sprungbrett für eine wilde Metapher dienen. Wiederholungen führen zu einer rhythmischen Intensität, ihre Prosa klingt, wirkt mündlich. Aber es ist keine des authentischen Erzählens.

Das größte Missverständnis wäre, ihre Sprache irgendwie orientalisch á la 1001 Nacht zu nennen. Nein, es ist die Mündlichkeit des Theaters. Es geht um Artistik. Wir bewegen uns in Özdamars Romanen auf einer Bühne. Einer sehr großen Bühne, ein Welttheater, das alles umfassen kann: Ereignisse, Träume, Gedanken, Gespräche, Theorien.

Am Anfang ihres letzten Buchs spricht die Ich-Erzählerin mit Krähen, die ihr eine düstere Zukunft in Deutschland prophezeien, die schlimmste Aussicht: dass sie als das „beste Beispiel der Integration“ dienen könne. Genau das ist sie nicht.

Der Georg-Büchner-Preis geht an eine eigensinnige und freie Stimme.

Begründung der Jury


"Mit Emine Sevgi Özdamar zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine herausragende Autorin aus, der die deutsche Sprache und Literatur neue Horizonte, Themen und einen hochpoetischen Sound verdankt. Einst aus der Türkei ins geteilte Berlin gekommen, bereichert Özdamar seit über drei Jahrzehnten die deutschsprachige Literaturszene mit ihren Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, zuletzt mit dem Opus magnum ‚Ein von Schatten begrenzter Raum‘.

Ungewohnte literarische Stilmittel und aus dem Türkischen inspirierte Sprechweisen prägen ihre multiperspektivischen Texte, die neben intimen persönlichen Erfahrungen ein breites Panorama deutsch-türkischer Geschichte entfalten − vom Ersten Weltkrieg über die Aufbruchstimmung der sechziger und siebziger Jahre bis in unsere Gegenwart. Emine Sevgi Özdamars Werk eröffnet einen zugleich intellektuellen wie poetischen Dialog zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen, an dem wir lesend teilhaben dürfen."

Carsten Otte über "Ein von Schatten begrenzter Raum" von Emine Sevgi Özdamar

Die Georg-Büchner-Preisträger 2021, 2020, 2019

Literatur Preisträgerin 2020: Elke Erb

Mit einer Auswahl von Gedichten aus fünf Jahrzehnten würdigt der Suhrkamp-Verlag die Lyrikerin und Büchner-Preisträgerin 2020 Elke Erb für experimentierfreudiges Erforschen poetischer Formen.

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