Platz 4 (61 Punkte)

J.M. Coetzee: Der Pole

Stand

Der südafrikanische Nobelpreisträger war schon immer ein Meister der Kälte, der ruhigen Hand im besten Sinne. Jedenfalls auf den ersten Blick und äußerlich. Dass es in seinen Protagonisten brodelt, ist nicht zu bestreiten, und doch entstehen die Emotionen eher in den Assoziationsräumen der Lesenden.

Es ist eine Liebesgeschichte, die Coetzee in diesem schmalen Buch und in ausgesprochen kurzen Kapiteln erzählt. Beatriz, die zunächst nur „die Frau“ genannt wird, ist Mitte vierzig und die Ehefrau eines wohlhabenden Bankiers in Barcelona. „Der Mann“ ist Witold, ist mehr als 20 älter als sie und von Beruf Pianist. Sein Fachgebiet sind Chopin-Interpretationen. Beatriz engagiert Witold für einen Konzertabend, und zunächst ist sie befremdet und enttäuscht zugleich, denn Witolds Spiel entspricht nicht dem, was Beatriz erwartet hat. Statt einen musikalischen „Duft von Rosen“ zu hören, spielt der Pianist verstörend hart. Mit diesem Abend könnte alles zu Ende sein, doch in Wahrheit beginnt es jetzt erst, denn Witold schreibt Beatriz, macht ihr Komplimente, schmeichelt ihr auf eine altmodische Weise. Die Erzählperspektive kippt nun in Richtung der Frau, und doch entsteht daraus etwas, das in seinen Motiven bleibt und auch in seiner Beschreibung, denn das ist der Clou: Beatriz und Witold verständigen sich in englischer Sprache, die für sie beide eine Fremdsprache ist. Was ihnen fehlt, ist eine Sprache für die Liebe, für ihre Liebe. Wenn es denn eine ist.

Konsequenterweise hat Coetzee dafür gesorgt, dass zunächst die spanische Ausgabe seines neuen Romans, dann weitere Übersetzungen und erst im Herbst das englische Original erscheinen wird. Auf diese Weise macht er deutlich: Das Bedeutsame zwischen zwei Menschen ist im Grunde unübersetzbar und unbenennbar. Es muss jedes Mal aufs Neue erschlossen und übersetzt werden – hier in einen rätselhaften, schönen Text.

Stand
Autor/in
SWR