Zeitwort

09.05.1976: Ulrike Meinhof wird erhängt aufgefunden

Stand
Autor/in
Marie-Luise Sulzer
Onlinefassung
Dominic Konrad

Ulrike Meinhof war eine schillernde Figur in der Medienlandschaft der 1960er-Jahre. Sie schrieb eine Kolumne für die Zeitschrift „Konkret“, mit deren Chefredakteur Klaus Röhl sie verheiratet war. Und sie war Namensgeberin der „Baader-Meinhof-Bande“.

Tod durch Strangulation in der JVA Stuttgart-Stammheim

Es ist Sonntag, der 09. Mai 1976, 7:34 Uhr. Ein Vollzugsbeamter öffnet die Zelle 719 in der JVA Stuttgart Stammheim. Ulrike Meinhof hängt leblos am Fenstergitter. Sechs Minuten später diagnostiziert ein Gefängnisarzt Tod durch Strangulation.

Traugott Bender, der damalige baden-württembergische Justizminister, wird bereits wenige Stunden später erklären: „Nach unseren bisherigen Feststellungen wurde Ulrike Meinhof gestern Abend gegen 22:00 Uhr zuletzt lebend gesehen und bis gegen 22:30 Uhr hörte man Geräusche aus der Zelle. Noch heute Vormittag wurde die Leiche zur richterlichen Leichenöffnung verbracht. Anhaltspunkte für ein Einwirken dritter Personen sind nicht zu erkennen.“

Ulrike Meinhof Beerdigung
Kaum eine Gemeinde in Deutschland erklärte sich bereit, eine Grabstelle für Ulrike Meinhof bereitzustellen. Rund 4.000 Demonstrant*innen begleiteten die Beerdigung am 15. Mai 1976 in Berlin-Mariendorf.

Selbstmord oder Mord?

Selbstmord also! So die schnelle – für viele zu schnelle – offizielle Version. Oder doch Mord? Davon überzeugt wird die Sympathisanten-Szene noch Jahre später sein.

Schließlich gab es keinen Abschiedsbrief. Ulrike Meinhof soll ihrer Schwester gesagt haben, Selbstmord komme für sie überhaupt nicht in Frage. Sollte es eine solche Nachricht geben, dann sei es in Wirklichkeit Mord. Aber hatte sie nicht auch in einem Zellen-Rundbrief geschrieben, dass Selbstmord der letzte Akt der Rebellion sei?

Ulrike Meinhof war angeblich zunehmend isoliert, es gäbe Konflikte zwischen ihr und Gudrun Ensslin. Sie habe ihren Weg als Irrweg erkannt, so sahen nicht wenige die Situation Ulrike Meinhofs in der Zeit kurz vor ihrem Selbstmord.

Archivradio: Andreas Baader kritisiert das Gerichtsverfahren im Stammheim-Prozess

Die Todesmeldung sorgt für Jubel, der RAF-Prozess geht weiter

Während manche über den Tod Meinhofs jubelten und Glückwunsch-Anzeigen in Zeitungen anstandslos abgedruckt wurden, ging in Stammheim der RAF-Prozess weiter. Die Angehörigen suchten unterdessen in Westberlin einen Friedhof, was schwierig war.

Reinhard Krol war damals einer der Gerichtsreporter des Süddeutschen Rundfunks. Sein Bericht am ersten Verhandlungstag nach dem Selbstmord von Ulrike Meinhofs: „So ging Carl Jan Raspe noch einmal auf die Gerüchte von Spannungen innerhalb der Gruppe ein. Er sagte wörtlich: ‚Ich kenne die Beziehungen zwischen Ulrike und Andreas seit sieben Jahren. Sie waren bestimmt durch Intensität und Zärtlichkeit. Dass es keine Spannungen gegeben habe, weisen die Aufschriebe von Ulrike Meinhof bis zu ihrem Tode.‘ Auf den Vorwurf, der Tod von Frau Meinhof sei eine kalt geplante Hinrichtung, wurde ihm dann vom Vorsitzenden das Wort entzogen.“

Ulrike Meinhof
Ab 1970 war Ulrike Meinhof die meistgesuchteste Frau der Bundesrepublik Deutschland. Sie und Gerhard Müller wurden am 14. Juni 1972 festgenommen. Meinhof war abgemagert und ähnelte ihren Fahndungsfotos nur wenig.

So manches im Leben Ulrike Meinhofs wollte nicht zusammenpassen

Ihr Ende ist bekannt, aber sie begann als christliche Pazifistin. Was hat den Bruch verursacht? Eine nachdenkliche Meinhof sagte: Hätte man gewusst, dass bei der Baader-Befreiung ein Unbeteiligter angeschossen würde, dann hätte diese Aktion nicht stattgefunden. Dem entgegen steht ihr berüchtigter Satz:

„Die Bullen sind Schweine. Und natürlich kann geschossen werden.“

Einst war sie die hoch gelobte „Konkret“ -Kolumnistin, Teil der Hamburger und Sylter Links-Schickeria. Dann kam die Erkenntnis, dass sich das System Kolumnisten leiste, ohnmächtige Einzelne, damit aus der Theorie keine Praxis werde. Folgerichtig war in Meinhofs Logik der Schritt von der Vergeblichkeit des geschriebenen Wortes hin zur befreienden Tat.

Die radikale Linke stilisiert Ulrike Meinhof zur Märtyrerin

Ulrike Meinhof: die Intellektuelle, die Meisterin des Wortes. Ulrike Meinhof: die Aktivistin, die Befürworterin von Gewalt. Sie war Projektionsfläche für viele.

Manche sahen sie in der Nähe von Rosa Luxemburg, anderen galt sie als „Heilige Johanna“. Sie wurde in „der europäischen Gewaltszene“ zur „Märtyrerin“, aber auch zur „Ikone der undogmatischen Linken“. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek widmete ihr mit „Ulrike Maria Stuart“ gar ein Theaterstück, was von Kritikern als „heiterer Abgesang auf die radikale Linke“ interpretiert wurde. Wieder andere bedauerten den „gefallenen Engel“.

Mit der nötigen Distanz hat es die Londoner „Times“ vielleicht am besten auf den Punkt gebracht: „Das Ende eines vertanen Lebens ist immer traurig.“

Der Stammheim-Prozess

19.10.1977 Obduktion der RAF-Terroristen Baader, Ensslin und Raspe

19.10.1977 | Obduktion der von Baader, Ensslin und Raspe in Tübingen. Der Reporter spricht von Nachrichtensperre. Pfarrer Ensslin fordert, den Leichnam seiner Tochter nach Bad Cannstatt zu überführen. | RAF

Die RAF und der Deutsche Herbst 1977

1.6.1972 Verhaftung der RAF-Mitglieder Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe

1.6.1972 | Hunderte Schüsse sollen gefallen sein, als am 1. Juni 1972 die Polizei im Frankfurter Nordend drei Mitglieder aus dem harten Kern der "Roten Armee Fraktion" festnahm: Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe. In den Wochen zuvor hatte die Terrorgruppe eine Reihe von Anschlägen verübt.
Baader saß 1970 schon einmal im Gefängnis, war aber mithilfe der Journalistin Ulrike Meinhof befreit worden und hielt sich seitdem im Untergrund auf bzw. zusammen mit anderen Angehörigen der Terrorgruppe in Jordanien, wo sie wiederum bei palästinensischen Terroristen Waffentraining bekamen. Zurück in der Bundesrepublik verüben sie 1972 zahlreiche Bombenanschläge – auf das Hauptquartier der US-Streitkräfte in Frankfurt und Heidelberg, auf Polizeistationen, auf die Zentrale des Axel-Springer-Verlags in Hamburg.
Welche Bedeutung die Festnahme von Baader, Meins und Raspe hat, zeigt sich auch darin, wie ausführlich die Nachrichten des Südwestfunks und die unmittelbar anschließende Sondersendung darauf eingehen. Sie unterstützen auch die weiteren Fahndungsaufrufe der Polizei.

19.6.1972 Bundesanwaltschaft zur Verhaftung von Ulrike Meinhof

19.6.1972 | Ulrike Meinhof wurde heute verhaftet. Die Staatsanwaltschaft grübelt über einem verschlüsselten Brief von Gudrun Ensslin an Ulrike Meinhof. | RAF

4.5.1976 Baader kritisiert Stammheim-Prozess, Schily fordert Nixon als Zeuge

4.5.1976 | Der Stuttgarter Stammheim-Prozess gegen die Mitglieder der RAF zieht sich hin. Der Angeklagte Andreas Baader wirft dem Gericht vor, dass der Prozess aus wahlkampftaktischen Gründen künstlich in die Länge gezogen werde. Baader sieht das Gerichtsverfahren letztlich als Spiegelbild der globalen Machtverhältnisse.

10.5.1976 Neue Erkenntnisse nach dem Tod von Ulrike Meinhof

10.5.1976 | Einen Tag nach dem Tod von Ulrike Meinhof gibt es Streit über die Obduktion und die Informationspolitik der Justizbehörde. In Frankfurt finden gewalttätige Sympathiekundgebungen statt. | RAF

10.1.1977 Otto Schily erhebt Beschwerde gegen Haftbedingungen für RAF-Mitglieder

10.1.1977 | Otto Schily, Verteidiger von Gudrun Ensslin, erhebt Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bundesrichter Albrecht Mayer. Begründung: Verdacht auf geheime Absprachen zwischen den Richtern sowie Weitergabe von Prozessakten an Journalisten. Noch am selben Tag wird Albrecht Mayer versetzt. | RAF

7.4.1977 Tagesschau: Siegfried Buback ermordet

7.4.1977 | Die ARD-Tagesschau ist am 7. April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback gewidmet: Er wurde um 9.15 Uhr von Mitgliedern der „Aktionsgemeinschaft Ulrike Meinhof“ erschossenen. | RAF

6.9.1977 Attentat auf Hanns Martin Schleyer: Augenzeugenbericht

6.9.1977 | Ein Augenzeuge schildert die Ereignisse nach dem Anschlag auf den Arbeitgeberpräsidenten: Böllerschüsse, Pulvergeruch und fürchterliche Schreie. | RAF

7.9.1977 Durchsagen des BKA zur Entführung von Hanns Martin Schleyer

7.9.1977 | Das Bundeskriminalamt wendet sich über die ARD und das ZDF an die Entführer von Hanns Martin Schleyer und geht eingeschränkt auf Forderungen ein. | RAF

14.10.1977 Flugzeugentführung steht in Zusammenhang mit Schleyer-Entführung

14.10.1977 | Die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" gerät in eine dramatische Phase. Der Pressesprecher der Bundesregierung beendet die Nachrichtensperre. | RAF

Stand
Autor/in
Marie-Luise Sulzer
Onlinefassung
Dominic Konrad