Martin Schläpfer choreographiert "Schwanensee" in Düsseldorf

Schwanensee als Psychogramm

Stand

Am 9.6.2018 von Natali Kurth

Martin Schläpfer ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Choreographen. Seine Werke sind oft fragmentarisch, düster, aber auch humoresk und immer sehr physisch. Um Handlungsballette machte er die letzten 20 Jahre immer einen großen Bogen. Und doch präsentierte er zum Abschluss dieser Tanzsaison mit seiner Version von Tschaikowskys "Schwanensee" ausgerechnet das wohl bekannteste klassische Ballett überhaupt.

Abschied von den kleinen Schwanenmädchen

Der „Schwanensee“ ist für viele Inbegriff des Balletts. Die vier entzückenden kleinen Schwäne kennt jeder, die 32 schnellen Drehungen des schwarzes Schwans sind legendär, die Schwanenmädchen in ihren blütenweißen Tutus und Federhauben gehören für die allermeisten zum Schwanensee dazu, wie die Sahne auf dem Erdbeerkuchen.

asdf Schläpfer lässt romantische Standards einfach weg

Und was macht Martin Schläpfer mit diesen einst vom romantischen Ballett gesetzten Standards? Er lässt sie einfach weg. Manchmal auch die Musik zum Tanz. Ebenso den in aufwendige Kostüme gekleideten Hofstaat, das adlige Ambiente mit Palast, die allermeisten der Nationaltänze. Auch der Spitzenschuh ist nicht selbstverständliches Accessoire, fast alle tanzen barfuß.

Schwanensee bei dörflichem Landadel

Riesengroße goldene Bilderrahmen ohne Bild hängen von oben herab, ein Platzhalter für das moderne Märchen, das Martin Schläpfer souverän erzählen wird.
Seinen Schwanensee siedelt er in einem dörflichen Landadel an.

Boris Randzio (Odettes Großvater), Doris Becker, Alexandra Inculet, Feline van Dijken (Schwanen-Frauen), Marlúcia do Amaral (Odette)
Boris Randzio als Odettes Großvater, Doris Becker, Alexandra Inculet und Feline van Dijken als Schwanen-Frauen, Marlúcia do Amaral als Odette.

Die Mutter Siegfrieds steht der Familie vor, eine liebevolle und das Wohl des Sohnes besorgte Frau. Siegfried, getanzt von Marcos Menha, ist bei Schläpfer ein junger Mann in schwarzen legeren Hosen und weißem Hemd, der ausgelassen mit seinen Kumpels feiert, keinen Bock hat auf übertriebene Etikette und schon gar keinen auf Mädels. Jedenfalls nicht im engeren Sinne: herumalbern und Spaß haben, ja – mehr aber auch nicht.

Die Schwäne dürfen auch mal auf dem Boden sitzen

Lässige Battements, das heißt Sprünge, bei denen sich die Beine in der Luft berühren, lockere Flirts – Martin Schläpfer holt den Schwanensee wohltuend vom Sockel - und zwar ohne ihm etwas von seiner Faszination zu nehmen. Das funktioniert, indem er sich auf die Handlung fokussiert, bremsende Divertissements kürzt oder weglässt.

Walzer gibt es allerdings. Aber dazu können die Schwäne in ihren weißen zopfartigen Röcken auch einfach auf dem Boden sitzen.

 Schläpfers Muse als Odette

Und natürlich kann er sich blind auf Marlucia do Amaral verlassen, seine langjährige Muse. Sie tanzt „Odette“ im kurzen weißen Kleid und herausgehoben auf Spitze in bekannter Melange zwischen klassischer Technik und Schläpfers eigenwilligem Stil mit vielen Ecken und Kanten. Bravourös entwickelt sie sich in der Rolle vom kecken Girl in eine leidenschaftlich Liebende.

Bei ihrer ersten Begegnung nachts im Wald nähert sie sich rückwärts Siegfried, der vom ersten Moment an gebannt ist, aber noch nicht so recht weiß, wie er mit seinen Gefühlen umgehen soll. Er schultert sie kopfüber, Odette flirtet ihn an, schwänzelt regelrecht um ihn herum, flext die Füße, winkelt die Arme an – sie ist keine Heilige. Im Pas de deux mit Marcos Menha brilliert sie einmal mehr mit ihrer ausdrucksstarken Interpretation der Rolle.

Marlúcia do Amaral (Odette), Boris Randzio (Odettes Großvater)
Marlúcia do Amaral (Odette), Boris Randzio (Odettes Großvater).

Zauberer Rotbart und Odile: Düstere Chimären

Der Zauberer Rotbart ist bei Schläpfer ein Handlanger der bösen Stiefmutter und ihrem Gefolge. Ihre dunklen Kostüme sind düster wie ihre Charaktere. Dazwischen taucht immer wieder Boris Randzio als Odettes Großvater auf. Hier als Vermittler, Vorherseher, weiser Mann.

In vielen Schwanensee-Interpretationen wird der weiße und schwarze Schwan von einer Tänzerin getanzt. Bei Schläpfer ist Odile, getanzt von Camille Andriot, eine Chimäre, ein Zauberwesen, kreiert in der dunklen Welt von Rotbart. Sie versucht gar nicht erst, Odette zu ähneln. Die Täuschung funktioniert trotzdem.

Dem Tode entgegentaumeln

Am Ende finden Siegfried und Odette sich wieder und berühren zutiefst in einem atemberaubenden 4. Akt. Die verzweifelte Liebe hat sich in jede Ader der beiden eingeschrieben, vibriert schmerzlich durch die Körper, die sich ein letztes Mal aufbäumen, kraftlos zusammensacken, dem Tode entgegen taumeln oder in zärtlichen Berührungen verharren - denn sie wissen, ein Morgen wird es nicht geben.

Ergreifendes Psychogramm zweier Liebenden

Martin Schläpfers Schwanensee ist weder eine Rekonstruktion, noch eine Revolte. Er zeichnet ein ebenso zeitloses wie ergreifendes Psychogramm zweier Liebenden. Botschaft: Es kann jeden treffen - nicht nur, aber auch im Schwanensee.

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Autor/in
SWR