Sammlung Prinzhorn: „Outsider Art“ und „Art Brut“ in Heidelberg
„Bildnerei der Geisteskranken“ heißt das Buch, das der Psychiater Hans Prinzhorn 1922 veröffentlicht. Einst von den Nazis geächtet, ist die Kunstsammlung heute – 100 Jahre nach Erscheinen des Buchs – ein wichtiger Teil von Outsider Art.
Psychiatriepatienten vor 100 Jahren: "Irre", "Wahnsinnige" und "Geisteskranke"
Hans Prinzhorn, geboren 1886, war nicht nur Mediziner, sondern auch Kunsthistoriker. Er wird 1919 nach Heidelberg an die Psychiatrische Universitätsklinik berufen, um sich um bereits gesammelte Werke von Anstaltspatienten zu kümmern.
Hans Prinzhorn sucht nach dem Unbewussten als Ursprung der Kunst
Prinzhorn will diese Sammlung erweitern. Er sucht nach dem Unbewussten als Ursprung der Kunst. Auf seine Bitten und Anfragen erhält er mehr als 5.000 Arbeiten von Psychiatriepatienten. Die werden damals noch als Irre, Wahnsinnige oder Geisteskranke bezeichnet.
Prinzhorn erhält Tausende Kunstwerke und Krankenakten – meist von Männern
Das Buch von Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“ erscheint vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs – und trifft den Nerv der Zeit. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Denn wer sind die Wahnsinnigen – die in der Anstalt oder die da draußen im Weltkrieg? Entsprechende Zeitzeugnisse sind festgehalten in Kunstwerken aus der Psychiatrie – und in 3.400 Heidelberger Krankenakten.
Kunstwerke von Patientinnen sind in der Sammlung Prinzhorn unterrepräsentiert. Auch von daher kommt Else Blankenhorn besondere Bedeutung zu. Dass nur rund 25 Prozent der Werke in der Sammlung Prinzhorn von Frauen stammen, liegt nicht daran, dass es damals weniger Frauen in Anstalten gab, sondern an der Vorauswahl der Psychiater, die die Werke nach Heidelberg geschickt haben, erzählt Ingrid von Beyme, heute Kuratorin der Sammlung Prinzhorn.
Nur männliche Künstler in Prinzhorns Buch „Bildnerei der Geisteskranken“
Im Buch würdigt Hans Prinzhorn ebenfalls nur zehn „schizophrene Meister“, aber keine einzige Patientenkünstlerin. Die Patienten werden auch nicht zur Verwendung ihrer Werke befragt. Denn Patienten dürfen damals in den Heil- und Pflegeanstalten kein Eigentum besitzen. Nur der Schöpfer Hunderter von Holzskulpturen, Karl Wilhelm Genzel, erhält immerhin Tabak als Geschenk, um weitere Arbeiten zu schnitzen.
Werke aus Sammlung Prinzhorn als "Entartete Kunst" ausgestellt
Genzels Skulpturen sind einzigartig. Teuflische Pickelhaubenträger. Schrille Fratzen. Riesenköpfe mit Füßen. Zwitterwesen wie die Figur „Weib und Mann oder Adam und Eva“. Seine Kunst ist damals wie alle Werke der Sammlung Prinzhorn öffentlich nicht zugänglich. Bis die Nazis Genzels Skulpturen für ihre Zwecke missbrauchen: Um die Kunst der Moderne als „Kunst der Irren“ zu diffamieren, werden einige Werke aus der Sammlung Prinzhorn Teil der Wanderausstellung "Entartete Kunst".
Verbrechen der Nazi-Psychiatrie aus der Sicht eines Opfers
Die Folgen der Nazi-Herrschaft in den psychiatrischen Anstalten zeigt ein Bilderzyklus von Wilhelm Werner. 44 Bleistiftzeichnungen, betitelt als „Siegeszug der Sterelation“. Wilhelm Werner hat darin akribisch festgehalten, wie er in der Anstalt zwangssterilisiert worden ist.
Diese Blätter sind besonders, weil sich kaum irgendwelche freien Zeichnungen aus der Nazizeit von Patienten bewahrt haben, so Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg. Die Bilder zeigen die Verbrechen der Nazi-Psychiatrie aus der Sicht eines Opfers. Wilhelm Werner wurde 1940 ermordet. Im selben Jahr und in derselben Tötungsanstalt wie Elfriede Lohse-Wächtler.
Geschichte der Sammlung Prinzhorn ist auch Geschichte der NS-Euthanasie
Die Künstlerin Elfriede Lohse-Wächtler landet in der Psychiatrie. Dort hält sie den Alltag ihrer Mitpatientinnen in Zeichnungen fest. Lohse-Wächtler wird mit 41 Jahren von den Nazis als "lebensunwert" ermordet.
Die Heidelberger Sammlung Prinzhorn hat erst vor Kurzem den Nachlass der Künstlerin erwerben können. 250 Bilder, Hunderte von Fotos und Dokumenten. Die Geschichte der Sammlung Prinzhorn ist auch eine Geschichte der NS-Euthanasie.
Werke aus der Sammlung Prinzhorn, wie „Der Wunderhirte“ von Patientenkünstler August Natterer, haben direkten Einfluss auf Max Ernst. Durch ihn wird Prinzhorns Buch "Bildnerei der Geisteskranken" quasi zur „Bibel“ der Surrealisten. Das Standardwerk des Unbewussten in der Kunst. Nach 1945 entstehen dafür die Begriffe „Art Brut“ oder „Outsider Art“.
Die Sammlung Prinzhorn ist seitdem immer größer geworden und wächst weiter. Jedes Bild erzählt eine neue Geschichte und ein anderes Schicksal. Über 40.000 Arbeiten sind es inzwischen. Das, was Hans Prinzhorn vor 100 Jahren vergebens erträumt hat, ist am Ende nach langen Kämpfen doch noch verwirklicht worden – ein eigenes Museum.
Seit 2001 ist die Sammlung Prinzhorn in einem ehemaligen Hörsaalgebäude der Heidelberger Universitätsklinik untergebracht. Dort, wo Hans Prinzhorn Kunstwerke von Psychiatriepatienten gesammelt hat.