Bosnien-Herzegowina: Scheitern vorprogrammiert
Bosnien-Herzegowina ist ein Land, das vielen als bestes Beispiel eines "failed state" gilt: eines dysfunktionalen, bürokratisch aufgeblasenen Staatenkonstrukts, das wohl von Beginn an zum Scheitern verurteilt war.
Bosnienkrieg 1992 bis 1995 forderte 100.000 Tote
Dieser „Beginn“ stand am Ende eines dreieinhalb Jahre dauernden blutigen Krieges auf dem Gebiet der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina: 100.000 Tote, über zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, 1.425 Tage Belagerung Sarajevos durch bosnische Serben – das sind die nackten Zahlen des Bosnienkrieges zwischen April 1992 und Dezember 1995.
Friedensvertrag von Dayton: ein souveräner Staat, zwei Entitäten
Im Friedensvertrag von Dayton wurden die Grundpfeiler geschaffen für das Bosnien-Herzegowina von heute: ein souveräner Staat, bestehend aus zwei in etwa gleich großen sogenannten „Entitäten": der Föderation Bosnien und Herzegowina, in der vor allem muslimische Bosniaken und katholische Kroaten leben, und dem überwiegend serbischen Landesteil, der Republika Srpska.
3-köpfiges Staatspräsidium, 150 Ministerien – für 3 Millionen Einwohner
Alle gesamtstaatlichen Institutionen des Landes arbeiten von der Hauptstadt Sarajevo aus: Das dreiköpfige Staatspräsidium, die Regierung, Justiz, Armee. Hinzu kommen aufgeblähte Verwaltungsstrukturen auf regionaler Ebene. In einem Land mit nur drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern gibt es mehr als 150 Ministerien.
Spannungen schaukeln sich seit Sommer 2021 hoch
Die aktuellen Spannungen schaukeln sich seit Sommer 2021 hoch: Damals erließ der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, der Österreicher Valentin Inzko, ein Gesetz, das die Leugnung von Völkermord und Kriegsverbrechen im Land verbietet – ein heikles Thema für viele Menschen in der Republika Srpska und Serbien. Denn dort wird z. B. Ratko Mladić von vielen bis heute als Nationalheld verehrt. Mladić war Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee im Bosnienkrieg, er organisierte das Massaker von Srebrenica, bei dem im Juli 1995 8.000 muslimische Bosniaken brutal ermordet wurden. 2017 wurde Mladić in Den Haag wegen seiner Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt, das Urteil im Sommer 2021 nochmals bestätigt.
Kriegsverbrecher Ratko Mladić – von vielen Serben als Nationalheld verehrt
In Banja Luka und auch in Serbiens Hauptstadt Belgrad jedoch muss man nicht lange suchen, um das an Häuserwände gesprühte Konterfei des verurteilten Kriegsverbrechers zu finden. Und Milorad Dodik nahm das Gesetz zum Anlass, weiter an der Eskalationsspirale zu drehen: Anfang Dezember 2021 stimmte das Regionalparlament in Banja Luka für den Rückzug aus zentralen Institutionen von Bosnien Herzegowina: der Armee, sowie dem Justiz- und Steuersystem – ein Schritt, der einer Abspaltung gleichkäme, sagt auch Christian Schmidt.
Nationalistisches Getöse von Milorad Dodik fällt auf fruchtbaren Boden
Der CSU-Mann Schmidt, ehemaliger Bundeslandwirtschaftsminister und Staatssekretär im Außenministerium, ist seit August 2021 neuer Hoher Repräsentant der UNO in Sarajevo. Die Lage im serbischen Landesteil beschreibt er als brandgefährlich, es müsse verhindert werden, dass hier ein heißer Konflikt entsteht, bei dem Menschen in Bosnien wieder aufeinander schießen.
Zumal eine starke Zivilgesellschaft in Bosnien-Herzegowina fehlt. Denn wie in vielen anderen Westbalkan-Staaten auch – Serbien, Kosovo, Nordmazedonien – verlassen auch dort junge, gut ausgebildete Köpfe ihre Heimat zumeist in Richtung EU. Genau in solch einem Vakuum findet das nationalistische Getöse eines Milorad Dodik starken Widerhall. Hinzu komme seit Putins Überfall auf die Ukraine die Angst davor, dass dieser Konflikt auf den Balkan übergreifen könnte, sagt Christian Schmidt:
Stabilität um jeden Preis: Hat die EU zu lange weggeschaut?
Tanja Topić kennt das nationalistische Gebaren des "Systems Dodik" und das jahrelange Wegschauen der EU aus nächster Nähe. Die Journalistin arbeitet für das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Banja Luka. Gerade hat sie einen Bekannten auf der Straße getroffen. Der Mann berichtet aufgebracht von einem Hochschuldozenten der örtlichen Uni, der sein Diplom gefälscht hat – aber wohl nichts befürchten muss, weil er das richtige Parteibuch besitzt. Genauso funktioniere das System, sagt Topić: Fast in jeder Familie gebe es jemanden, der für den aufgeblähten Staatsapparat arbeitet. Diese Leute überlegten sich natürlich drei Mal, ob sie auf die Straße gehen gegen die Regierung in Banja Luka.
Brüssel habe sich bei all dem auch mitschuldig gemacht, meint Topić, weil es pseudodemokratische Machteliten auf dem Balkan gestützt habe – um einer vermeintlichen „Stabilität“ in der Region willen. Stabilität hat oberste Priorität: Diese politische Grundhaltung war über viele Jahre auch ein Credo der Ära Merkel. Kritiker haben das der ehemaligen Bundeskanzlerin auch immer wieder vorgehalten, etwa mit Blick auf den autokratischen Politikstil von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić.
Pro-Putin-Demonstration in Belgrad im März 2022
Anfang März 2022 zogen 4.000 bis 5.000 Menschen mit russischen Flaggen und ProPutin-Transparenten durch Belgrad. Vor dem Denkmal des russischen Zaren Nikolaus II. gab es eine Protestkundgebung, untermalt mit der russischen Nationalhymne. Viele Menschen in Serbien rechnen es Russland bis heute hoch an, dass Moskau sich 1999 im UN-Sicherheitsrat gegen die NATO-Bombardierung Belgrads und anderer serbischer Städte stellte.
Für viele Serbinnen und Serben gehört Kosovo zu Serbien
Zudem erkennt Russland die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an, genauso wie China und sogar einige EU-Staaten, darunter Spanien und Griechenland. Für Belgrad und die meisten Serbinnen und Serben gehört Kosovo fest zu Serbien, und noch häufiger als Graffitis des Kriegsverbrechers Mladić prangen an serbischen Häuserwänden oder Autobahnbrücken entsprechende Schriftzüge: "Kosovo je Srbija", „Kosovo ist Serbien“
Anfang 2008 hatte die Republik Kosovo ihre Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Doch bis heute ist der gesamte Norden des Landes eine Art Niemandsland: Offiziell wird das Gebiet von der nur 40 Kilometer entfernten Hauptstadt Pristina aus verwaltet. In Wahrheit ist der Landstrich um Mitrovica herum, in dem rund 50.000 Serben leben, eine Art schwarzes Loch. Die Zentralregierung in Pristina hat dort nicht viel zu melden: Auf der anderen Seite der Ibar-Brücke haben die Autos entweder gar keine oder alte jugoslawische Kennzeichen, beim Einkauf werden auch serbische Dinar als Zahlungsmittel akzeptiert, die Bewohner dürfen sogar an serbischen Wahlen teilnehmen.
Der russische Überfall auf die Ukraine schürt im Kosovo durchaus Ängste, dass Serbien sich die russischen Großmachtgelüste zum Vorbild nehmen könnte. So formuliert es jedenfalls die kosovarische Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz:
Situation im Kosovo nicht direkt vergleichbar mit der Ukraine
Serbien verweigert dem Kosovo die Anerkennung als souveräner Staat, und auch hier spielt – ähnlich wie im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – der Blick weit zurück in die Geschichte eine wichtige Rolle: Ende des 14. Jahrhunderts metzeln sich auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, unweit von Pristina 50.000 Serben und Osmanen gegenseitig nieder.
Um diese Schlacht ranken sich bis heute Mythen und Legenden: Der serbische Heerführer Fürst Lazar wird heiliggesprochen, das Amselfeld zum Gründungsmythos des Serbentums schlechthin verklärt. Und so wie der Schutz von russischen Landsleuten weltweit seit 2020 sogar in der russischen Verfassung festgeschrieben ist, müssen auch die serbischen Minderheiten außerhalb Serbiens immer wieder für Belgrads politische Ränkespiele herhalten, nach dem Motto: Wir müssen doch unsere Leute schützen.
Experten sehen derzeit keine akute Kriegsgefahr
Aber auch hier muss laut dem Balkan-Experte Florian Bieber genauer hingeschaut werden, die Ausgangslage im Kosovo sei dann doch eine andere als in der Ukraine:
Auch in Bosnien-Herzegowina haben die meisten Menschen andere Sorgen, als sich ernsthaft Gedanken wegen eines neuen Krieges auf dem Balkan zu machen. Es fehle für einen Krieg sowieso an allem, glaubt Srdjan Puhalo. Der Sozialpsychologe aus Banja Luka kommentiert das politische Geschehen in seiner Heimat in einem viel gelesenen Blog:
Serbien: Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 3. April 2022
Hinweise darauf, wie es auf dem Balkan weiter geht, dürften auch am 3. April 2022 erkennbar werden, wenn in Serbien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Das serbische Verhältnis zum Kosovo, zu Russland, zur EU – und zu Abspaltungstendenzen in Bosnien-Herzegowina: All das wird auch danach ganz oben auf der politischen Agenda in Belgrad stehen.