Das französische Quatuor Tchalik ist ein Quartett, das nur aus Geschwistern besteht: Gabriel, Louise, Sarah und Marc Tchalik. Zusammen mit Schwester Danila werden sie sogar zum familiären Klavierquintett. Auf ihrem neuen Album „Boris Tishchenko“ wird die familiäre Prägung nicht nur interpretatorisch hörbar, sondern auch mit Blick auf das Repertoire – denn die Tchaliks stammen aus einer russischsprachigen Familie. Früh haben sie daher den russischen Komponisten Boris Tishchenko kennengelernt, ihn sogar persönlich getroffen.
Musikalische Anstrengung und Erschöpfung
Geradezu belanglos beginnt das erste Streichquartett von Boris Tischtschenko mit einem Bratschen-Solo mit fragendem Charakter. Es dauert aber nicht lange, bis eine darunter brodelnde Spannung spürbar wird und schließlich hervorbricht.
Tischtschenkos Musik beruhigt, aber nur für den Moment. Denn im dritten Satz bricht sie umso heftiger aus. Es kribbelt im Trommelfell, so hart spielen die Tchaliks am Steg.
Dann fällt das Gerüst in sich zusammen, als hätte jemand den Stecker gezogen. Es ist einerseits Kraftanstrengungen, andererseit aber Erschöpfung. Diese Dualität gibt es bei Tischtschenko immer wieder. Ob das seiner Lebenssituation geschuldet war?
Resignative Töne
Sein erstes Quartett hat er 1957 geschrieben. Tischtschenko ist damals erst 18 Jahre alt und studiert am St. Petersburger Konservatorium. Er lernt unter anderem bei Dmitri Schostakowitsch, wird dessen Freund und Vertrauter.
Politisch ist mit der sogenannten „Tauwetter-Periode“ gerade eine teilweise Liberalisierung in Gang – doch der Stalinterror steckt allen noch in den Knochen. Visionen, wie es mit dem geschundenen Land weitergehen soll, gibt es kaum. Vielleicht ein Grund für den oft resignativen Ton in Tischtschenkos Musik?
Westliche Töne wie bei Haydn
Gleichzeitig war St. Petersburg nahe am Westen. Im fünften Streichquartett von Tischtschenko wird diese Nähe auf geradezu didaktische Weise spürbar, denn der Beginn klingt nach Joseph Haydn.
Die Tchaliks nennen das Werk eine eindrucksvolle „Synthese der Geschichte des Streichquartetts“. Tatsächlich erklingt das harmlose Anfangs-Motiv in immer neuen Stilen und Facetten – es ist allerdings kein fröhlichen Spiel, sondern wirkt wie die verbissene Suche nach einem Ausweg.
Russisches Rhythmus-Gewitter
Mehr und mehr bekommt man beim Hören den Eindruck, dass dieses Anfangsmotiv wie in einem psychotischen Wahn fortgeführt werden muss. Wie ein Ohrwurm bohrt es sich immer tiefer und unbarmherziger ins Bewusstsein – bis zu diabolischen Rhythmus-Clustern im Stil von Igor Strawinsky.
Referenzen zu russischen Kollegen sind auch in Tischtschenkos Klavierquintett omnipräsent, das am Ende des Albums steht. Der Beginn gleicht in seiner geisterhaften Unruhe Werken Dmitri Schostakowitschs. Es folgen schwärmerische Töne wie bei Glinka, Rhythmus-Gewitter à la Strawinsky, und einmal hört man vielleicht sogar den Gnom aus Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ herumstapfen.
Fesselnde Aufnahme
Bei dieser Vielfalt an Stilen und Zitaten ist es fast unmöglich, den Personalstil Tischtschenkos zu beschreiben. Vielleicht steckte genau darin seine Stärke: Er nahm sich künstlerisch seine Freiheiten. Die Welt draußen erstarrte im Kalten Krieg, seine Komponierstube dagegen wurde zu einem Ort der Weltoffenheit.
Der geschliffene und zugleich variable Klang der Tchaliks fesselt die Aufmerksamkeit beim Zuhören. Ihnen gelingt ein spannendes Portrait dieses Komponisten und seiner „Würde des Widerstandes“, wie es so schön im Booklet heißt. Das stiftet Hoffnung – wenngleich Tischtschenkos Musik das Leiden an der Realität ebenfalls schmerzlich spürbar macht.
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