Karl-Sczuka-Preis 2023

Martin Brandlmayr: Interstitial Spaces

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Autor/in
Martin Brandlmayr

Lila Crane dreht den Türknauf, ein dunkel schimmernder Akkord klingt aus, die Tür schwingt leise auf und Lila betritt zögernd das Treppenhaus. Wir hören das Knistern des Filmtones und ihre leisen Schritte auf dem Flur, bevor die Tür wieder ins Schloss fällt.

Die letzten Töne von Feldman´s Vertical Thoughts verklingen, der Pianist und die Geigerin verharren in ihren Positionen und halten den Atem an.

Harry Caul sitzt an seinem Studiotisch und hält inne, nachdem er seine Bandmaschine abgestellt hat aus der Ferne das dumpfe Dröhnen eines Schiffshornes. Dazwischen nichts zu hören. Oder war da noch etwas im Rauschen des Raumes verborgen?

Kurze Audioausschnitte aus Filmen, TV-Werbung, Studioaufnahmen und Fieldrecordings bilden die Grundlage des Hörstücks „Interstitial Spaces“.

Fokus bei der Auswahl des Materials liegt dabei auf Zeiträumen zwischen den „eigentlichen“ Ereignissen: Das „Noch nicht“ oder „Nicht mehr“, die Ränder der Musik, ein letzter Nachklang, der im Raum verhallt, das Einatmen bevor der 1. Ton erklingt, die Nachdenkpausen, das Zögern, die Stille, die während der Suche nach den richtigen Worten entsteht. Eine Lücke also, ein Mangel der schnell behoben werden sollte oder ein Zwischenraum, in dem wir verweilen können? Die musikalische Pause ist so ein Ort. Ein Ort an dem scheinbar nichts passiert. Hören wir also in die Stille, zoomen wir in das Rauschen, was entdecken wir dort?

Die klingende Vielheit eines Orchesters, das sich einstimmt, eine Bahnhofshalle, in der die Klänge von hunderten Menschen und Gerätschaften vibrieren; können wir in dieser Vielheit einzelne akustische Ereignisse heraushören, die unser Interesse wecken, die uns auf eine Fährte führen? Das scheinbar Nebensächliche rückt hier in den Vordergrund.

Räume zwischen Anwesenheit und Abwesenheit werden akustisch erkundet und es wird in die scheinbare Stille hineingeleuchtet. Verschiedene Schattierungen von Rauschen entstehen und verborgene ansonsten oftmals überhörte Klänge tauchen daraus auf, werden zu neuen Ankerpunkten des Geschehens.

Komposition und Realisation: Martin Brandlmayr
Mastering: Martin Siewert
Redaktion und Dramaturgie. Frank Halbig
Produktion: SWR 2023

Begründung der Jury

„Die experimentelle Komposition arbeitet mit den Zwischenräumen in den Tonspuren von Filmen, Fernsehwerbung, Studioaufnahmen und Fieldrecordings. Brandlmayr isoliert die Pausengeräusche, das Noch-Nicht und Nicht-Mehr im akustischen Material und rückt damit das scheinbar Nebensächliche in den Fokus der Aufmerksamkeit. In der minimalistischen Produktion ist jedes Hörsignal bedeutsam und gewinnt ästhetische Eigenqualität. Die komplexe Rhythmisierung, die akustisches Schlagzeug und elektronische Geräusche gleichwertig behandelt, eröffnet einen akustischen Raum, in dem die konventionellen Unterscheidungen von Information und Störsignal, von Qualität und Abfall permanent unterlaufen werden. Trotz der durchdachten Konzeption ist in diesem Stück nichts vorhersehbar, es ist gerade das Unerwartete, gelegentlich auch Überfordernde, das das Hören als eigenaktive ästhetische Tätigkeit definiert und neue Wege radiophoner Erfahrung aufzeigt.“

Zum 62. Mal wird der Karl-Sczuka-Preis vergeben

In diesem Jahr wurden 89 Wettbewerbsbeiträge aus 34 Ländern eingereicht. Über die Preisträger hat am Donnerstag, den 29. Juni 2023, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz des bildenden Künstlers Olaf Nicolai entschieden. Weitere Jurymitglieder waren Inke Arns, Julia Cloot, Michael Grote und Thomas Meinecke.

Videointerview mit Preisträger Martin Brandlmayr

Martin Brandlmayr

Martin Brandlmayr ist Komponist und Schlagzeuger. Er arbeitet im Grenzbereich zwischen Improvisation und Komposition bzw. an der Schnittstelle zwischen elektronischen und akustischen Klangwelten. Er ist unter anderem Mitglied der Ensembles Polwechsel, Trapist und Kapital Band 1. Mit Radian veröffentlichte er seit Ende der 1990er Jahre insgesamt acht Alben, sechs davon auf dem US-amerikanischen Label Thrill Jockey. Abseits von seinen Langzeitprojekten komponierte er Musik für Tanz-, Opern-, Film- und Videoproduktionen sowie Klanginstallationen. Er arbeitete mit Howe Gelb, Mats Gustafsson, Christian Fennesz, Elisabeth Harnik, The Necks, Sachiko M, David Sylvian, John Tilbury, Ken Vandermark, Otomo Yoshihide und vielen mehr.

Für sein Debüthörspiel „Vive les fantômes“ (SWR 2018) erhielt er den Karl-Sczuka-Preis 2018.

http://www.martinbrandlmayr.com

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Martin Brandlmayr