Glosse

Was darf Kultur? Wenn Gipfelstürmer Petrarca auf Markus Lanz trifft

Stand
Autor/in
Gordon Kampe
Onlinefassung
Dominic Konrad

Was ist Kultur – und was darf sie? SWR Kultur Kolumnist Gordon Kampe macht sich so seine Gedanken über südfranzösische Froschschenkel und den einleitenden G-Dur-Akkord in Beethovens viertem Klavierkonzert. Und er überlegt, was wohl dabei herauskommen würde, wenn Francesco Petrarca im Fernsehstudio von Markus Lanz aufkreuzen würde.

Eine Bergbeschreibung getrieben von Begierde

Vor ein paar Monaten, zwischen Weihnachten und Neujahr, verbrachte ich mit meiner Familie ein paar Tage in Avignon. Wie es dort zur Kultur dazugehört – jedenfalls sagte das mein Reiseführer – ließ ich mich von der lokalen Küche begeistern und verputzte ein paar Froschschenkel.

Zwei Tourist*innen auf einer Band auf dem Mont Ventoux mit Blick über die umliegende Landschaft
Der Gigant der Provence, der Mont Ventoux, zieht seit dem Altertum Besucher*innen in seinen Bann. Petrarcas Schilderung der Besteigung gilt bis heute als Schlüsseltext für den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance.

Als begeisterter Europäer mit einer ausgeprägten Frankophilie, dachte ich, das müsse jetzt mal sein. Es schmeckte, ich war happy. Kurz darauf, der Himmel blau und kein Wölkchen in Sicht, konnte ich vom Papstpalast aus in der Ferne auf den Mont Ventoux blicken, jenem Berg also, den Francesco Petrarca einst einfach so bestieg, ohne konkreten Grund – getrieben einzig „von der Begierde“, wie er schrieb, „diese Höhenregion mit eigenen Augen zu sehen“.

Da schaute ich auf den Berg und – verzeihen Sie mir mein Pathos – schon der Blick machte mich mehr als happy: So ein Glück, dachte ich, dass der da damals raufmarschiert ist und die Entwicklung dessen, was die europäische Kultur ausmacht, auf eine neue Stufe gehoben hat.

Zeitwort: Petrarca besteigt den Mont Ventoux

Würde Petrarca heute mit den Augen rollen?

Und was für ein Glück auch, dass ich – wenn ich es schon nicht verstehen, so doch wenigstens ein bisschen ahnen kann – welche wundervollen, bewegenden Kunst- und Kultur-Hervorbringungen auf Petrarcas eigentlich schlichte Entscheidung zum Gipfelsturm folgten: von der Sixtinischen Kapelle über den einleitenden G-Dur-Akkord in Beethovens 4. Klavierkonzert bis in die Gegenwart.

Blick durch einen Türrahmen auf die Stirnseite der Sixtinischen Kapelle mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts.
Meisterwerk der Renaissance: Michelangelo malte in der Sixtinischen Kapelle ab 1508. Das Fresko des Jüngsten Gerichts an der Stirnwand der Kapelle, entstand zwischen 1536 und 1541.

Wenn in arg verzwergten Diskussionen Kultur zum milliardsten Mal mit schlichtem Brauchtum verwechselt wird, etwa dem Verzehr einschlägiger Würstchen- oder Biersorten, dann stelle ich mir Petrarca vor, wie er bei Markus Lanz sitzt, frustriert mit den Augen rollt und sagt, dass er wegen solch würstchenhafter Plattitüden nicht da hochgekraxelt sei.

Außerdem, so Petrarca, sei auch die Fähigkeit des bloßen Aufsagens eines Gedichts, etwa aus der Feder des geschätzten Kollegen Goethe, ja ganz schön, aber auch nicht viel wert, wenn es nur ums bloße Aufsagen geht und nicht darum, dass man zulässt, nach dem Lesen des Gedichts womöglich ein anderer zu sein. „Da“, so Petrarca zum erstaunten Markus Lanz, „müsse man sich mal ehrlich machen“.

Auch der Kulturmensch ist dem Menschen ein Wolf

Natürlich hat, jenseits der gefühlt neun Millionen Kulturbegriffe, schon das Wort „Kultur“ für mich als Musiker einen zunächst durchweg positiven Klang. Dennoch: bei all dem gerade bejubelten Wahren, Schönen und Guten – nie darf vergessen werden, dass auch weit entwickelte Kulturen die dunkelsten Seiten des Menschen zu Tage treten lassen können.

Statue von Francesco Petrarca im Profil
Francesco Petrarca zählt zu den bedeutendsten Dichtern der europäischen Literatur. Sinnierend blickt er heute noch die Besucherinnen und Besucher der Galerien der Uffizien an.

Leider ist auch der Kulturmensch dem Menschen ein Wolf. Kultur, das ist also weder nur das Würstchen noch nur der Ablenkung versprechende Musentempel. Kultur – das sind wir. Wir können schön sein und wir können gefährlich sein.

Im Sommer, das habe ich mir vorgenommen, will ich wieder zum Mont Ventoux. Auf den Gipfel schaffe ich es sicher nicht, aber ich werde es wenigstens mal versuchen.

Was darf Kultur?

Musikgespräch Komponist*in Mart*in Schüttler: Was darf Kultur?

„Kunst ist keine Kultur und Kultur ist keine Kunst!“, sagt Komponist*in Mart*in Schüttler zum erweiterten Kulturbegriff. Kultur soll herausfordern und das Unbekannte ansprechen.

Treffpunkt Klassik SWR Kultur

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