Donaueschinger Musiktage 2006 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2006: "De Danzbodnlock"

Stand
Autor/in
Manfred Stahnke

Manfred Stahnke

Text VOR einer Violinsinfonie – (aufgeschrieben VOR der Komposition und am 11.8.06 lesbar gemacht):

1.

Die Nordleute: Johannes Brahms. Sein Super-Geigenkonzert, mit rumänischer Flamme.

Emil Nolde. Die Schrift in Land und Baum und Himmel suchen. Der Neu-Guinea-Reisende. In Farbe schreiben/schreien.

Arno Schmidt. Ungeglättet, ganz und gar stückelnd bastelnd. Und plötzlich leuchtet die Möglichkeit eines Zartesten. Der Reisende Kosmas. Er muss gelesen werden – und wenn es auch anstrengend ist!

Daraus und aus noch viel mehr Musik bauen. "Viel mehr": Wie Janáček denken. Musik als Sprache, eigentlich wie Vogelgezwitscher, nicht-leer. Noch viel mehr: Gérard Grisey, der innere Emigrant im Boulezland. Das Hören veranstalten.

Und: Ligeti-denken: Ganz hart die Klischeewege tilgen, hassen. Aber aufpassen, dass Schreiben überhaupt noch möglich bleibt. Denn du selbst bist Abklatsch von dem, was du gehört hast. Geht nich anners. Diese große Reise beschreiben, wie in Arno Schmidts KOSMAS oder Vom Berge des Nordens.

Was haben wir, was wollen wir:
Eine Geige, ein Orchester. 30 Minuten Zeit.
Hinein in ein ungehörtes Ding, mit Ketten von "reinen" Intervallen. Kein "Zurück", auch nicht zu einer vorgestellten "ursprünglichen Reinheit", gibs einfach nich. Und doch ein "Zurück": Eine Evokation eines alten Fiedeltanzes aus dem Norden.

Was ist die Geige für mich? Kindheitserlebnisse: Bachs Chaconne. Mein eigenes Kratzen, 10 Jahre Üben. Heute tut die linke Hand weh, wenn ich sie um den Hals biege...
Die Geige vor allem eine Intervall- und Pulsermöglicherin. Ihr Bogen: ein Tänzer, ein Schmeichler, und auch ein Kratzer.
Was wird das Orchester sein? Ein Tanzerweiterer, Tanzerreger, ein Raumerzeuger, Bilderzeuger.

Im Kopf die angesammelten Splitter anderer Musiken: (fast) namenlose wie Senleches (ca. 1380, für die Eleganz) und die Fiedler des Nordens (für die Körper), und namhafte: Mozart (für die Überraschung), Brahms (für die Melancholie), Bach (für die Konstruktion), Ligeti (für die Heftigkeit und die Wut). Die Attribute stimmen (fast) für jeden. Und sehr viele andere Splitter, manche beißend: Ives und Partch...
Und die Augen. Welches Land hab ich gesehen? Mein eigenes: Schleswig-Holstein. Die Fiedelmusik ausgestorben. Eine sentimental journey. Archäologe sein, getreu. Eine Aufzeichnung von 1860: "Schülper Bar", ein dithmarscher Tanz für Geige, von L. Selle aufgezeichnet.

Die Alten sangen op Platt: "De Danzbodn hätt'n Lock, hätt'n Lock..." Siegfried Lenz hat immer mal was in Worten eingefangen von den Menschen hier, von dem Land und dem Regen, von der speziellen Melancholie im Norden, und von der beißenden Helligkeit der Köpfe, man kann auch sagen: dem Spott. Lies die Deutschstunde. Übrigens ist der Text des alten Lieds hochkomplex. Denn: "Lock" ist nur vordergründig ein "Loch", der Tanzboden ist vielleicht gar nicht kaputt, sondern:

beglücken, glücklich/fruchtbar machen durch den Heros, vereinen; Ableitung aus leich/lig, gleich und let/lit, vergl. Germ. "lug", gr. "lycos"=biegsamer Stab, ahd. "loc", asächs. afries. "lok"; benennt Ort des Sexualritus.

Altfriesisch "lok". Die Höhle, in der der Ritus stattfindet.

Die Verschmelzung. Andere Ländereien kommen hinzu, welche in Klang zu transponieren sind: Das Bau-Land Antoni Gaudís (Architekt Katalaniens): ein zartes, naturhaft-herbes, verspieltes. Gaudí sagte: "Baue nicht, ermögliche." Und das Text-Land Daniil Charms' (Dichter Russlands). Charms sagte: "... und auch die Menschen rascheln." Kein Show-Off, nicht die dicke post-symphonische Musik.

Und die Bilder: Dürer, vor allem: Melencolia I, sein Engel mit dem Unrat drumherum. Unrat, aus dem zu basteln ist. Die Bricolage Derridas. Aber nimm auch die Klarheit der Engel Pieros della Francesca. Der Süden, Traum der krausen Nordleute.

Warum daraus Musik machen? Es geht um das IRRITIEREN des gewöhnlichen Hörens, des abgeschalteten, automatischen Hörens, auch des reflexhaften Profihörens Neuer Musik. Ton-, Puls-, Formverhältnisse: Nichts darf so sein, wie wir es "gewohnt" sind. Wir dürfen nicht "wohnen" im Klang. Wir müssen ihn uns erarbeiten, ihn betasten, wir müssen erst langsam ein Bild bilden. Das kann nervig sein, oder erfrischend. Das Bild ist aber auch abhängig von meinem Geschick: Eine intrikate Einbettung in das Vertraute wäre vonnöten, ein subversives Verschieben hin zum ganz Unvertrauten. Durch das "Verschieben" ist Botschaft möglich: Ein Gedankentransport vom Schreiber zum Hörer (der ich selber bin).

2. Alte Zahlenspiele

Nehmen wir eine Gesamtlänge von 30 Minuten an. Teilen wir diese Länge in 1, 2, 3 etc. Teile, bis wir über die Schwelle von 20 Pulsen pro Sekunde "beim höchsten Ton" ankommen, sagen wir C5 = 4190 Hz. An diesem Punkt wäre die Zeitstrecke von 30 Minuten x 60 Sekunden = 1800 Sekunden also 1800x4190 unterteilt worden = 7542000 mal.

Das erinnert an Charles Ives' Universe Symphony und ist in die Töne hinein weitergetrieben. Ives schichtete Pulse in Ganzen Zahlen von 1 bis 43 übereinander – als ganzzahlige Unterteilungen einer Zeitspanne von 16 Sekunden. Diese Struktur wiederholte sich. Die Tonhöhenorganisation blieb separat davon.

Ich werde nicht alle Unterteilungen von 2 bis 7542000 verwenden, sondern ich werde "filtern".

Ich werde großformal die Proportionen 1:2:3:4:5 etc. bis vielleicht 44 ein ganzes Stück weit nutzen, aber auch diese weg- und wieder auftauchen lassen (wenn ich die Gesamtstrecke von 1800 Sekunden durch 44 teile, habe ich "Formpulse" von ca. 41 Sekunden Länge).

Irgendwann, wenn ich immer weiter geteilt habe, etwa durch 300, werde ich medioformal die Teilungen als "Gestaltumrisse" erkennen, die Grenze ist fließend. 1800:300 ist ein Umriss von 6 Sekunden.

Ich werde diese Umrisse weiter teilen und zu mikroformalen rhythmischen, schließlich Tonhöhen-Gestalten gefrieren lassen (immer im Hinterkopf den alten dithmarscher Fiedeltanz). Ich werde dieses "Gefrieren" analog dem Geigentypischen und Geigenmöglichen ansetzen, in ganzzahligen "harmonischen" Teilungen denken, in Intervallen 1:2, 2:3, 3:4, 4:5, 5:6, 6:7, 7:8 (Flageolet-Denken wuchern lassen). Irgendwo trifft sich Harry Partch ("Just Intonation") mit Charles Ives' Universe Symphony: Partch benutzte Ganze Zahlen für seine meloharmonische Welt, Ives für die Pulswelt in seiner Universe Symphony.

Zum "Gefrieren": Entstehende Proportionen, die Quinte 3/2 oder auch exotische übergroße Sekunden wie 8/7 werden durch Übereinanderschichtung alte Bekannte erzeugen ("Diatonik" wie im Schülper Bar) oder fremde ("Quasi-Slendro" wie im Fall der übereinandergeschichteten 8/7-Sekunde, die einer quasi-äquidistanten Dreiteilung der Quinte entspricht, 702:3=234 Cent, wunderbar auf der Geige zu greifen). Proportionen werden "morphen": Sie werden stetig wachsen oder schrumpfen. Quarten werden Un-Quarten. Sie werden einen stetig "mit-morphenden" Differenztonschatten im Orchester erzeugen (unteres System im Beispiel unten): Die Intervallproportion 21/16 zum Beispiel (eine sehr enge "Quart") ergibt den "kubischen Differenzton" 11 (tief-cis). Der "quadratische Differenzton" wäre 5 (minimal tiefes h). Die "reine Quart 4/3" dagegen ergibt die Töne 2 und 1 (Alteuropas Quint-Oktavklang). Spannend sind Einbettungen in lineare mikrotonale Vorgänge wie im Beispiel:

3.

Hamburg, 11. August 06

Und doch waren das nur "Testgedanken". Werkstattgedanken, Hobelspäne. Nehmen wir noch einmal Dürers Melencolia (mein 4. Satz). Sein Spiel mit Zahlen, dem magischen Quadrat, dem ominösen Vieleck. Der Müllhaufen um den Engel. Dieses Bild ist keine "Komposition" der wohlausgewogenen Art, sondern ein Hadern mit Form, ein Wirrwarr von Zeichen über Zeichen. Und doch ist das Ganze eine wunderbare Komposition, erhebt sich unerklärlich über alle Exponate der "Melancholie"-Ausstellung in Berlin, die ich gerade besuchte (2006). So ein kleiner feiner klarer Druck. Die ganze Wut im Blick des Engels, die Anklage. Der unerfüllbare Auftrag an ihn, die Welt zu vermessen. Das Scheitern für alle Zeit. Das Scheitern als Grundbefindlichkeit, und der Drang, es immer wieder zu versuchen: "Violinsinfonie". Auch dieser Engel war mir ein Ur-Kindheitsbild: Meine Mutter sammelte all diese Dürers und Holbeins und Memlings und noch viel mehr, das Innerste vom Innersten. Das war ihr Schutz nach dem Entsetzen des Bombenkrieges (München) und dem Entsetzen der Flucht (aus Ostpreußen). Sie hat es voll mitbekommen. Und sie stieß mich an damals mit den alten Bildern, aber sie wusste nicht, dass meine Sache Musik werden würde. Schuld des Papa, der ewig an seinem Klavier rumstimmte... Ich weiß: Wir leben hier in einer Oase, und wie zerbrechlich ist alles...

***

Ligeti gerade gestorben. Was sagte er: Wir müssen am Grund der Musik neu zu forschen beginnen: bei den Ton- und Zeitverhältnissen. Wir diskutierten über Harry Partch und Conlon Nancarrow, oder über Paul Klee, den ganz Großen. Forschung am Kern: Wenn wir die Musik bei sich selbst packen, kommen wir weg von all der Musikpolitik oder Musikphilosophie, wo es darum geht, ob mehr oder weniger Ethno, ob Konzertmusikprotest oder Beethovengott, ob DJ-, Pop-, Jazz – unmöglich oder nötig oder Verrat oder geil oder progressiv oder oder. Was sagte Ligeti: "Ich weiß nicht, ob die Musik nicht doch wichtiger ist als der Diskurs."

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Manfred Stahnke