Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "Donaumusik 2001"

Stand
Autor/in
Peider A. Defilla

Peider A. Defilla

"Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar."
Franz Kafka: Die Bäume (aus: "Betrachtung", 1913)

Donaumusik ist eine virtuelle Oper, da die Aufführung nicht auf ein "Opernhaus" beschränkt ist, sondern jeden Aufführungsraum zum Opernhaus verwandelt. In Donaumusik treten auch keine Darsteller und Sänger auf, sondern Player. Oder anders ausgedrückt: es ist mit Playern zu rechnen, denn ein Auftritt im konventionellen Sinn ist gar nicht möglich. Die Aufgabe des Players besteht darin, Datensätze zu interpretieren. Dies können Notationen, Partituren oder dergleichen sein, allerdings nicht (nur) auf Papier, sondern auf Diskette, CD, Internet, Videokassette, Tonband, Schallplatte, Film, usw.

Der Begriff der Interpretation umfasst somit das Agieren im Raum, die Auseinandersetzung mit Apparaten, die Initialisierung und Bedienung von Rechnern, die Koordination mit programmierten oder zufällig entstehenden Ereignissen in Bild und Ton sowie das aktive Ausführen oder auch Entwickeln von Regie-Anweisungen in ganz bestimmten Situationen, wobei jeweils eine ganze Palette an Möglichkeiten offen steht, aus der eine, mehrere oder gar keine ausgewählt werden können.

Das "Bühnenbild" besteht ausschließlich aus Projektionen. Sie kommen von Video- oder Filmprojektoren und umfassen den ganzen Raum, ohne Rücksicht auf Positionen von Zuschauern und Zuhörern oder auf irgendwelche Beschaffenheiten des Raumes. Insofern sind sie auch gleichzeitig die "Beleuchtung". Sie sind also "virtuell", was nicht stimmt: sie sind gleichzeitig ganz real, und zwar so real, dass nicht nur die Projektionsapparate, sondern auch die Player, die sich mit ihnen auseinandersetzen, Teil des "Bühnenbildes" und somit auch der Aufführung sind.

Das Libretto, die Partitur, die Klavierauszüge, die Regieanweisungen, Probenpläne und das gesamte für die Projektionen notwendige Bildmaterial befinden sich auf den unterschiedlichsten Datenträgern, deren Entschlüsselung Teil der Aufführung ist. Der Player ist dadurch in vielfältiger Weise "Interpret", er trifft manchmal sogar Regie-Entscheidungen, muss sich mit technischen Problemen beschäftigen bzw. diese lösen und stellt auf diese Weise viele Ebenen frei, die zwischen der "Realität" und der "Virtualität" liegen; mehr noch: Virtualität und Realität verschmelzen und verdampfen...

Die "Handlung" besteht grundsätzlich aus selbstreflexiven Vorgängen, die jedoch derart intensiv sind, dass sie alle Sinne der Zuhörer/Zuschauer beanspruchen. Zum einen rein physisch dadurch, dass z.B. die Projektionen eine solche Monumentalität und Intensität erreichen können, dass nicht nur das visuelle, sondern auch z.B. das Gleichgewichtsorgan beansprucht wird. Zum anderen "inhaltlich" insofern, als die Musik, insbesondere die des 20. Jahrhunderts, im wörtlichen Sinne auf dem Prüfstand steht: Das Sudhaus wird zum Laboratorium, man hört und sieht beispielsweise Musik-Aufzeichnungen in anderem Zusammenhang, vom Konzertsaal entfremdet, Film-Aufzeichnungen mehrerer Konzerte ergeben ein neues, anderes Konzert, das wiederum in einen (z.B. historischen) Zusammenhang gesetzt wird, was wiederum ein neues Stück ergibt, bis ein Player dieses Stück noch einmal bearbeitet, multipliziert, abbricht, teilweise wiederholt etc. (Der Player hat übrigens nicht nur die Aufgabe, wiederzugeben, sondern auch aufzuzeichnen, zu montieren und diese Montagen für spätere Aufführungen als Material zur Verfügung zu stellen).

Donaumusik ist eine Oper und keine Performance. Man könnte es zwar auch eine Anti-Oper nennen, da sehr viele Elemente, die eine Oper ausmachen (Monumentalität, musikalische und bühnentechnische Artenvielfalt, dramatische Spannung etc.) zwar auch und in gehörigem Maße wichtig sind, doch in ganz anderem Sinn und letztlich mit anderer, nämlich experimenteller Absicht: es gibt einen "Entwicklungsplan" (vergleichbar einer Partitur, allerdings verteilt auf diverse Datenträger), der Einstudierung verlangt, Aktion und Reaktion von Player auf Player und auf akustische und optische Ereignisse vorsieht etc. Das Dirigat erfolgt akustisch über Headsets und basiert auf einer computergestützten Routine, die Eingriffe vorsieht, jedoch nicht zwingend erfordert.
(Der Begriff experimentelle Oper scheint mir etwas anmaßend – schließlich soll das Experiment erst einmal stattfinden...)

Die drei Akte sollen an drei aufeinanderfolgenden Tagen gespielt werden. Jeder Akt hat eine Dauer von ca. 30 Minuten. Die einzelnen Akte nehmen selbstverständlich aufeinander bezug und steigern sich entsprechend, doch wird die Erscheinungsweise in jedem Akt verschieden sein.
Zwischen Akt 1 und 2 sowie Akt 2 und 3 wird das Sudhaus mit einer überleitenden Video-Installation bespielt, genauso wie vor Beginn oder nach Ende, je nach Möglichkeit.

"Inhaltlich" ist die Oper Donaumusik 2001 ein Versuch, über Musik, Kunst, Kultur und Politik unabhängig von jedwelcher journalistischen Befangenheit zu reflektieren.

1. Akt: MEIN VATERLAND.

Musik als nationales Attribut. Meta-Nationalismen, der Globalisierungs-Nationalismus, die Verteidigung der Engstirnigkeit mittels Musik. Sport, Musik und Nationalhymne zum Beispiel.
Musik-Service. Anwenderfreundliche Musik, kundenfreundliche Musik zum Frühstück. Gnadenloseste Musik als Dauer-Sound: Die Hit-Garantien. Ora et labora – mit Musik.
(Im real existiert habenden Sozialismus war der "Komponist" der Musik für die Spartakiade in Leipzig von Beruf Oberstleutnant.)
Donauwalzer und Moldau lassen grüßen.

2. Akt : HISTOIRE DU SOLDAT.

Wir sprechen nicht von Kriegen, die waren, sondern von Kriegen, die sind und sein könn(t)en: Glaubenskriege, soweit das Auge reicht: Alle ("Neuen"!) Kriege des 21. Jahrhunderts sind religiös "begründet": Palästina, Nordirland, Bosnien-Mazedonien, Afghanistan, und so weiter, die Reihe ist unbeschreiblich und entsetzlich, jeder weiß das. (Übrigens ist beachtlich, dass in "letzter Zeit", sagen wir in den letzten zehn Jahren, sozusagen alle politisch-gesellschaftlichen Visionen und Projektionen in eine nahe oder gar ferne Zukunft von der journalistischen Bildfläche verschwunden sind. Eine postmoderne Theodizee macht sich in unserer freien Markwirtschaftspresse breit, dass einem Angst und Bange wird. Der Blick in die Zukunft findet nur noch im Videospiel statt, das – in "seriösen Kreisen" – beinahe so verpönt ist wie ein Pornofilm...)
Die Religion und die Musik, die schlagkräftige Strategie, letztlich kriegsentscheidend. Corporate Identity, Kraft durch Freude, Börsenschlachten, innovativ, flexibel, effektiv.
Und über allem das gnadenloseste Damokles-Schwert, das Gottes friedlicher Erdball je gesehen hat: Das neuste SDI-Programm der neusten amerikanischen Administration: jederzeit überall mit allen Mitteln Krieg führen, zentral gesteuert, anonym abgefeuert, alles SOFT-Ware!!! Und nach dem ersten dieser "Neuen" Kriege wird man dann, so zynisch das jetzt klingen mag, jeden palästinensischen Kamikaze von "heute" als harmlosen Pantoffelhelden bemitleiden, so wie dies "heute" ja auch mit den Konzentrationslagern der SS weitgehend geschieht...

3. Akt: PHANTASMA - DAS MUSIKALISCHE OPFER.

Die (Neue) Musik auf dem Seziertisch. Musikalische Theorie kontra musikalische Praxis. Experimentelle Theorie versus experimentelle Praxis. Das Experiment als Marketing-Instrument, in der Musik wie in der Gentechnik. Finden in der Musik wirklich Experimente statt? Sind nicht alle denkbaren Klänge prinzipiell bereits erzeugt und irgendwo in irgendeinem (vielleicht gar musikalischen) Zusammenhang abgespeichert? Das Experimentelle in der Musik kann dann wohl nur (noch???) die Reflexion ihrer (Aus-)wirkungen sein.... (Schon wieder bietet einer eine neue Software für Neue Musik an, es wird langsam, aber sicher öde).

Die Erwürgung des ("wirklichen", das heißt unabhängigen!) Experimentes durch die Ökonomie. Das Experiment als gnadenloses Machtinstrument: Lizenzen bezahlen für das Pythagoreische Komma. Experimentiert wird nur noch, wo Renditemaximierung zumindest wahrscheinlich ist: Die Spekulation um die Energieressourcen der nächsten 50 Jahre. Experimentelle Geophysik in der Inneren Mongolei mit NASA-Mitteln – ein Augen- und Ohrenschmaus, diese sehr experimentellen Spektralanalysen...

Was ist experimentelles Komponieren? In einer Zeit, in der alles und das Gegenteil von allem gleichzeitig und in beliebiger Wiederholung als Innovation durchgeht, könnte man die Meinung vertreten, experimentelle Komposition sei nicht (mehr) möglich, da in dieser Lage jede Komposition nur eine kalkulierte Verkettung von Routinen sein muss – daher auch alles computerisierbar sei.
Diese Sicht der Dinge verkennt jedoch das erfrischend Irrationale am Komponieren. Jetzt müsste eine wohlkalkulierte Theorie des experimentellen Komponierens folgen, die mir jedoch momentan "im Halse stecken bleibt".

NB: Die Fernsehfassung von DONAUMUSIK 2001 wird im Grunde genommen im Fernsehsender aufgeführt: Player playen auf diversen Kanälen, Live-Schaltungen zu allen Studios dieser Welt sowie zu einer gerade stattfindenden Aufführung von DONAUMUSIK 2001 sind jederzeit erwünscht.

Stand
Autor/in
Peider A. Defilla