Donaueschinger Musiktage 2007 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2007: "Quod est pax? – Vers la raison du coeur… "

Stand
Autor/in
Klaus Huber

Seit meinem vorletzten Orchesterstück "Lamentationes de fine vicesimi saeculi" (1992/94) verfolgt mich ständig eine äußere und vor allem innere Auseinandersetzung mit der Friedlosigkeit unserer Welt, die nicht zu allerletzt mit der Verdinglichung des Menschen und – wie könnte es anders sein – auch seiner Musik eng zusammenhängt. Im März 2003 schrieb ich einen Artikel Ein Krieg gegen die Welt – eine Welt gegen den Krieg und im gleichen Jahr A voice from Guernica für Bariton und Mandola/Mandoloncello auf ein Gedicht des chilenisch-US-amerikanischen Dichters Ariel Dorfman. (" Pablo Picasso has words for Colin Powell from the other side of death. Slaughter of innocents.")

Mein neues Werk, dessen vokaler Anteil zwar nicht durchgängig, aber doch perzeptiv in zwei Abschnitten die Musik trägt (sicher nicht zuletzt der wichtigen Textpräsenz wegen), führt diese meine Auseinandersetzung weiter, in Schichten hinein, die den greisen Menschen nicht loslassen. Aus Octavio Paz' großem, einzigartigen Gedicht El cántaro roto habe ich wenige Fragmente gewählt, die mir sehr nahe gehen. Das erste: "Vida y muerte no son mundos contrarios. Somos un solo tallo con dos flores gemelas". (Leben und Tod sind keine gegensätzlichen Welten, wir sind ein einziger Stengel mit Zwillingsblüten). Leben und Tod. Wenn sie nicht das Thema des Friedens umfassen...

Nun tritt der Tod vor mich hin, auch im Sinne einer schieren Obsession... Mein Vater erzählte mir in der Kindheit, dass der Todeston schon bei Heinrich Schütz das tiefe Es sei. Er war Schütz-Forscher, fand aber auch Belege bei (fast) allen großen Komponisten bis hin zu Béla Bartók. Als Kind wies ich das von mir. Jetzt kommt das Kontra-Es übermächtig zurück... Sieben Kontrabässe bilden einen Fächer. Ihre E-Saiten sind in Dritteltonintervallen gestimmt, zwei sechsteltönig. Das Es in ihrer Mitte. Sie spielen in natürlichen Flageoletten eine "Musica funebre", La Muerte. – Darf ich anmerken, dass ich damit das TRUMSCHEIT (trompette marine, ein Monochord, auf dem man die ganze Trompetenliteratur spielte!) in die zeitgenössische Musik indirekt zurückgeholt habe... Auch in den gemalten Totentänzen ist das Trumscheit immer das Instrument des Todes, der ja, ohne Lippen, nicht Posaune blasen kann...

Den Gegenpol zu den Kontrabässen bildet ein Fächer von sieben Violinen. Sie spielen – ohne scordatura – eine "Musica di spazio", eine dritteltönig schwebende Musik in hohen und höchsten Flageoletten. Die Singstimmen dazu: "Somos un solo tallo con dos flores gemelas." Auf das Ende des Gesanges: "...heimzukehren zum Ausgangspunkt, zur lebendigen Mitte des Ursprungs, jenseits von Ende und Beginn", setzen die Kontrabässe wieder ein und führen in ein kadenzierendes Orchestertutti.

Der zweite Teil meines Werkes, attacca zu spielen, bringt einen Text von Jacques Derrida ins Zentrum der Musik, den ich kurz nach dem Tod des Philosophen für zwei Singstimmen als in memoriam-Bicinium komponierte und auch in meinem Miserere hominibus wieder aufgriff. In diesem kurzen Text, den Derrida, ein algerischer Jude, als "Message" für "Le voyage en Palestine de la délégation du parlement international des Ecrivains", als Antwort auf einen Appell von Mahmud Darwisch schrieb, geht es im tiefsten Sinne um den Frieden, die Friedensfähigkeit eines "Nous". Derrida nennt das "la raison du coeur", Vernunft des Herzens, womit er sich auf Blaise Pascal bezieht, der seinen tiefen Gedanken die Doppelbedeutung von "la raison": Vernunft und Grund zugrunde legte. "La raison du coeur", sie wäre immer auf der Seite des Lebens, was man leider vom Verstand des Kopfes keineswegs sagen könne.
In vier Sequenzen, verbunden durch äußerst transparente Instrumentalzwischenspiele, erreichen die Singstimmen "...la raison du coeur, sa raison politique... Le coeur est du coté de la vie. La raison du coeur. Cést l´amour", womit ich in einen kurzen Motus-Epilog des Orchesters mit allen Singstimmen einmünde.

Heute haben wir in unserer Weltkultur eine ganz extreme Überbetonung der SICHERHEIT, wenn es um Weltfrieden gehen sollte. Das war nicht immer so. GERECHTIGKEIT, zusammen mit CONCORDIA stand als Grundlage wahren Friedens im Vordergrund. Dazu gehörte auch: aufeinander hören, zuhören können. Eine bis heute uneingelöste Allegorie von Frieden, welche die Musik nicht unberührt lassen kann. Die Bilder des Friedens oder die vergessene Gerechtigkeit. Justice!! Vers une paix véritable.

DIE TEXTE:

Octavio Paz

Vida y muerte no son mundos contrarios, somos un solo tallo con dos flores gemelas,
hay que desenterrar la palabra perdida, soñar hacia dentro
y también hacia afuera, ... volver al punto de partida, ...
hacia allá, al centro vivo del origen, más allá de
fin y comienzo. –

Jacques Derrida

Nous? La raison du cœur
Commencer, re-commencer (recommençons), c’est risqué, c’est parfois impossible, nous le savons, par dire « nous ». Le plus justement, le moins injustement possible.
Nous, malgré toutes les différences du monde, et les plus respectables, nous, supposons-le, …
nous serions nombreux dans le monde, …
Nous le savons pourtant: c’est maintenant trop tard pour argumenter encore, même si ce n’est jamais inutile. Le mal est fait, il continue. …
Les analyses restent impuissantes – et inadéquates à l’urgence qui nous serre le cœur.
Nous pensons alors que c’est sur cette limite, en ce lieu d’épuisement qu’il faut commencer à recommencer. Et c’est, cette limite, le dedans ou le fond du cœur. De ce que nous décidons d’appeler à nouveau le cœur, pour en appeler à lui. C’est là que le « nous » passe la raison et gagne immédiatement le cœur, c’est là qu’il parle sans diplomatie au cœur, du cœur, de cœur à cœur, la raison du cœur, sa raison politique. … Le cœur est du côté de la vie.
La raison du cœur. C’est l’amour…

(gesprochene Texte:)

Quod est pax? La paix?Was ist Friede? Der Friede?
Les images de la paix – Die Bilder des Friedens –
ou – la justice oubliée… oder – die vergessene Gerechtigkeit…
Justice !! Gerechtigkeit!!
Vers une paix véritable –hin zu einem wahrhaftigen Frieden –
(K.H)

Deutsche Übersetzungen dieser Texte und die Textquellen:

Octavio Paz:

Leben und Tod sind keine gegensätzlichen Welten,
wir sind ein einziger Stengel mit Zwillingsblüten,
auszugraben gilt es das verlorene Wort, zu träumen nach
innen und auch nach außen , ...heimzukehren zum Ausgangspunkt,
zur lebendigen Mitte des Ursprungs, jenseits von Ende und Beginn.

Jacques Derrida: (in memoriam)

WIR? Die Vernunft des Herzens
Anfangen, wieder-anfangen (lasst uns wieder anfangen!). Es ist gewagt, ist manchmal unmöglich, wir wissen es, "wir" zu sagen. Und das so gerecht wie möglich, so wenig ungerecht wie möglich...
Wir, trotz aller Unterschiede dieser Welt. und seien sie noch so achtbar, wir dürfen annehmen, dass wir zahlreich seien in der Welt...
Wir wissen es dennoch: jetzt ist es zu spät, immer weiter zu argumentieren; selbst wenn das nie unnötig ist.
Das Böse, das Schlechte ist getan, und es geht weiter...
Die Analysen bleiben machtlos, der Dringlichkeit unangemessen, die uns das Herz einschnürt. Wir denken, dass es an dieser Grenze ist, an diesem Punkt der Erschöpfung, dass man anfangen muss neu anzufangen.
Und genau diese Grenze berührt das Innerste oder den Grund des Herzens. Das, was wir von Neuem das Herz nennen wollen, um es neu aufzurufen. Dies ist der Ort, wo das Wir den Verstand überschreitet und unmittelbar unser Herz gewinnt.
Hier spricht das Wir ohne Diplomatie zum Herzen, vom Herzen, von Herz zu Herz, die Vernunft des Herzens, seine politische Vernunft.
Das Herz ist immer auf der Seite des Lebens: die Herzensvernunft,
(Das ist die Liebe.)(Ergänzung: Klaus Huber)

Textquellen:

Octavio Paz,, aus: EL CÁNTARO ROTO. Gedichte X, México 1955, Suhrkamp Taschenbuch
Jacques Derrida, Nous? Message au Parlement international des ècrivains, Ramallah 2002, et Ed. Joell Losfeld/Dada 2001, deutscher Übersetzungsversuch: Klaus Huber

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Klaus Huber